„Die hat mich vor allen Kindern angeschrien...“ – Gewalt in der Kita

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Denken wir an eine Kita, so gehen wir selbstverständlich davon aus, dass dort keine Gewalt von pädagogischen Fachkräften ausgeht und die Kinder behütet in ihrer Entwicklung gefördert werden. Spiel und Freude stehen dabei im Mittelpunkt. Leider ist auf den ersten Blick in einem pädagogischen Alltag der Kita nicht immer zu sehen, dass es durchaus vorkommt, dass Fachkräfte Gewalt ausüben. Bei genauerem Hinsehen kommt diese Tatsache auf unterschiedliche Art und Weise öfter vor als angenommen.

Jedes Kind hat ein Recht auf gewaltfreie Erziehung
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gewalt als „tatsächlichen oder angedrohten absichtlichen Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (Vgl. https://gewaltpraevention.tsn.at/node/11.de). Gewalt in der Erziehung bezieht sich auf die psychische und körperliche Gewalt und deren Folgen, die vom Erwachsenen auf das Kind ausgeübt wird.
Jedes Kind hat ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch. „(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (BGB, § 1631 Abs.2) Dennoch kommt es in Kitas vor, dass pädagogische Fachkräfte Gewalt auf die ihnen anvertrauten Kinder ausüben. Körperliche Gewalt ist dabei leichter zu identifizieren als psychische Gewalt, denn körperliche Verletzungen sind manchmal sichtbar.

Fachkräfte nutzen ihre körperliche Überlegenheit
In Kitas lassen sich immer wieder Verhaltensweisen pädagogischer Fachkräfte den Kindern gegenüber beobachten, die mit körperlicher Macht und Gewalt einhergehen. So wird ein Kind beispielsweise von hinten „angeschoben“, wenn es trödelnd und nach Ermessen der Fachkraft zu langsam geht. Ein Kind, das beim Mittagessen immer wieder aufspringt wird auf den Stuhl gedrückt und an den Tisch geschoben. Ein Kind ausgeschimpft und dabei fest am Arm gepackt. Einem Kind wird ohne Vorwarnung in die Hose geschaut, ob die Windel voll ist. Bei all diesen Beispielen missbrauchen Fachkräfte ihre körperliche Überlegenheit, um zu dem Ziel zu kommen, das die Fachkräfte gerne hätten.

Demütigen, beschämen, kränken – die vielen Gesichter der psychischen Gewalt
Psychische Gewalt ist dann gegeben, wenn Kinder von Fachkräften gedemütigt, beschämt oder gekränkt werden. So sagt beispielsweise die Fachkraft zum Kind: „Du bist immer der letzte, der mit dem Anziehen fertig ist. Wieso musst du immer so trödeln? Das kann ein Dreijähriger ja schneller als du! Und du willst im Sommer zur Schule kommen?!.“ „Immer“ stimmt sicher nicht und kein baldiges Schulkind will mit einem Kindergartenanfänger verglichen werden. Ebenso kränkend ist es, wenn die Fachkraft in Anwesenheit des Kindes schlecht über es redet. „Heute hat Erik sich drei mal in die Hosen gemacht. Das hat so ekelig gerochen. Ich hätte mich fast übergeben.“ Psychisch gewalttätig ist eine pädagogische Fachkraft auch, wenn sie auf ein offensichtlich ängstliches Kind nicht beruhigend eingeht oder ein sichtbar trauriges Kind nicht tröstet. Auch die Methode, Kinder, die sich beim Essen zu laut verhalten und Quatsch machen, an den sogenannten Katzentisch zu setzen, ist psychische Gewalt. Weitere in Kitas genutzte Methoden sind Bedrohung und Erpressung. „Wenn du nicht aufräumst, darfst du hier morgen nicht mehr spielen.“ „Wenn ihr das Mittagessen aufesst, lese ich nachher eine Geschichte vor.“ Ungefähr jede vierte pädagogische Interaktion geht mit seelischer Gewalt der Fachkraft dem Kind gegenüber einher. (Vgl. Maywald 2019, S. 115)

Überschreiten der kindlichen Grenzen
Überschreitet ein Mensch die Grenzen anderer, kann das als gewalttätig wahrgenommen werden. Grenzüberschreitungen in der Kita sind nicht immer objektiv messbar, denn jedes Kind hat eigene Grenzen und ein individuelles Empfinden von Grenzverletzungen. Ein Kind empfindet es als übergriffig, wenn es beim Trösten auf den Schoß der Fachkraft gehoben wird und ein anderes nicht. Grenzverletzungen kommen in Interaktionen unabsichtlich immer mal wieder vor. An der Reaktion des Kindes lässt sich in den meisten Fällen erkennen, ob eine Handlung oder auch Worte grenzüberschreitend erlebt wurden. Beispielsweise spannt sich ein Kind körperlich sehr an, wenn es auf den Schoß der Fachkraft genommen wird. Hier ist es wichtig, sich als Fachkraft zu entschuldigen und aufzupassen, in einer nächsten ähnlichen Situation achtsamer mit dem Kind umzugehen. Auch ein nicht böse gemeinter Scherz kann aus Versehen mal daneben gehen und kränkend sein. Auch hier ist eine Entschuldigung angebracht und die Anmerkung, dass die Bemerkung nicht böse oder kränkend gemeint war. Wenn diese Ausnahmen oft vorkommen und zur Regel werden, ist das nicht zu tolerieren. In einem solchen Fall zeigt die Fachkraft eine Haltung gegenüber den Kindern, die von Missachtung, Respektlosigkeit und Machtmissbrauch geprägt ist. Dieses ist ein sowohl persönliches als auch ein fachliches Versagen der pädagogischen Fachkraft. In Gefahrensituationen allerdings lassen sich grenzüberschreitende Handlungen oft nicht vermeiden. So muss eine Fachkraft ein Kind beispielsweise schnell Wegreißen, wenn es sonst von einem Kind auf dem Dreirad angefahren worden wäre.

Psychische Gewalt hinterlässt schmerzhafte Spuren
Während die Folgen körperlicher Gewalt mit sichtbaren körperlichen Verletzungen einhergehen können, sieht man Kindern die Folgen psychischer Gewalt erst einmal nicht an. Dennoch ist psychische Gewalt ebenso schmerzvoll. Neurobiolog*innen konnten feststellen, dass körperliche und soziale Schmerzen vom Gehirn gleich verarbeitet werden. Die Folgen psychischer Gewalt sind beispielsweise Scham, Einschüchterung, Angst und Verunsicherung. Diese können Kinder daran hindern, ihre Welt neugierig und forschend zu entdecken. Einige Kinder reagieren auf psychische Gewalt mit Aggression, andere mit Rückzug und Passivität. (Vgl. Schulz/Frisch 2016) Kinder, die Gewalt in der Kita erlebt haben, verlieren das Vertrauen darin, dass sie dort behütet und beschützt werden. Die Kita ist für sie kein sicherer Ort mehr.

Kinder beschweren sich nicht bei der Kita-Leitung
Kinder beschweren sich nicht bei der Kita-Leitung, wenn sie von einer Fachkraft gekränkt oder gedemütigt werden. Sie denken, dass sie das Verhalten der Fachkraft verdient haben und das es an ihnen liegt, so behandelt zu werden. Vertraut sich ein Kind den Eltern an, so ist es nicht zwingend so, dass Mutter oder Vater das Gespräch mit der Fachkraft oder der Leitung sucht. Viele Eltern vertrauen der Fachkraft und ihrer Professionalität. Außerdem möchten sie keine schlechte Stimmung verbreiten, weil das möglicherweise wiederum auf ihr eigenes Kind in der Kita zurückfallen würde. Viele Kinder berichten zu Hause auch nicht, was ihnen in der Kita widerfahren ist, weil sie sich schämen. So ist zum Beispiel sicher kein Kind stolz darauf, jeden Vormittag zur Morgenkreiszeit alleine sitzend auf dem Flur zu verbringen, weil es im Morgenkreis zu sehr zappelt und „Blödsinn macht“.

Wahrgenommene Gewalt muss immer der Kita-Leitung gemeldet werden
Kinder können sich nicht gegen die Gewalt von Erwachsenen zur Wehr setzen. In der Kita sind sie den Fachkräften unterlegen und von ihnen abhängig. Deshalb sind die Kinder darauf angewiesen, dass alle Mitarbeiter*innen einer Kita sensibel für Formen der körperlichen und psychischen Gewalt sind, diese wahrnehmen und nicht tolerieren. Mitarbeiter*innen müssen die inneren und äußeren Möglichkeit haben, Fehlverhalten einer Kollegin oder eines Kollegen kritisch anzusprechen. „Da hast du dich aber im Ton vergriffen, als Tom der Teller herunter gefallen ist. Meinst du nicht?“ „Du hast Frieda aber sehr hart am Arm angefasst und in den Gruppenraum geschleift, als sie sich wieder mit Tina auf dem Flur gestritten hat.“ Aus Angst vor schlechter Atmosphäre ist es für viele Mitarbeiter*innen schwer, dieses notwendige Feedback zu äußern. Auf der anderen Seite ist es auch nicht leicht, Kritik anzunehmen und das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren. Deshalb sollte der Umgang mit gewalttätigem Verhalten und Grenzverletzungen nicht zwingend (nur) Sache des pädagogischen Teams sein, sondern immer auch an die Leitung herangetragen werden. Dieses sollte auch anonym ermöglicht werden. Die Kita-Leitung hat die Aufgabe, mit der betreffenden Fachkraft ins Gespräch zu gehen und Konsequenzen ziehen. Wie diese Konsequenzen aussehen, hängt von den Handlungen der Fachkraft ab. Möglicherweise kann es zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen, wie einer Abmahnung oder Versetzung kommen. In schweren Fällen von psychischer oder körperlicher Gewalt folgen strafrechtliche Konsequenzen.

Fazit
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Dennoch kommt es immer wieder zu körperlicher oder psychischer Gewalt in Kitas. Kinder sind nicht in der Lage, sich gegenüber gewalttätigen pädagogischen Fachkräften zu wehren. Sie vertrauen den Fachkräften. Sie sind darauf angewiesen, dass andere Mitarbeiter*innen der Kita, gewalttätiges Handeln als solches Erkennen und daraufhin handeln. Zum einen benötigt die Kita eine Feedbackkultur, in der es möglich ist, Kollegen und Kolleginnen ein nicht zu tolerierendes, unprofessionelles Handeln zu spiegeln. Zum anderen muss gewalttätiges Handeln von Fachkräften auch immer an die Kita-Leitung herangetragen werden, die sich mit der Fachkraft auseinandersetzt und Konsequenzen einleitet. Der Schutz der Kinder steht an erster Stelle, denn eine Kita muss ein gewaltfreier, sicherer Ort für Kinder sein.

Quellen und Literatur

Schulz, Ingrid/Frisch, Sandra: Kein Kind darf in der Ecke stehen. Recht auf gewaltfreie Erziehung. In: Betrifft KINDER, 03/2016
Lattschar, Birgit: „Mama, die Erzieherin hat mich gehauen!“ Fehlverhalten durch Mitarbeitdende in Institutionen. In: TPS5/2014
Maywald, Jörg: Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg im Breisgau. Herder Verlag, 2019
https://gewaltpraevention.tsn.at/node/11  / Stand 22.06.2020