Ferdinand Klein: Rechtzeitige Hilfe für das Kind mit beeinträchtigter Aufmerksamkeit

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Neue Herausforderungen für die Erzieher/-innen
Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen werden immer jünger und immer mehr. Sie stellen die pädagogische Fachkraft vor neue Herausforderungen. Die Kinder zeigen schon in den ersten Lebensjahren ein auffälliges Verhalten für das es über einhundert verschiedene Bezeichnungen in der psychologischen und psychiatrischen Fachliteratur gibt: Exogenes Psychosyndrom, psychoneurologische Lernschwäche, hyperkinetisches Syndrom (HKS). Alarmierend ist die Modediagnose ADS/ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/Aufmerksamkeits-Defitzit-Hyperaktivitäts-Störung). Wie kann die Kita diesen hyperaktiven Kindern helfen?

Vielfältige Ursachen
Die Medizin gibt uns noch keine befriedigende Antwort auf die körperlichen Ursachen dieser Verhaltensauffälligkeit. Genetische Komponenten spielen wahrscheinlich eine wichtige Rolle, bestimmte Funktionssysteme des Gehirns dürften beeinträchtigt sein, eindeutige Befunde sind aber bisher nicht nachzuweisen. Man vermutet einen Mangel am Neurotransmitter Dopamin, der die Verarbeitung von Informationen steuert und Aufmerksamkeit strukturiert. Ritalin soll ein Dopamin-Defizit ausgleichen. Auch wenn mitunter auf ein Medikament nicht verzichtet werden kann, ist doch dessen Dosis möglichst gering zu halten bzw. seine Anwendung zeitlich zu begrenzen. Die medikamentöse Therapie muss aber durch pädagogische Maßnahmen ergänzt werden (Neuhäuser/Klein 2019).
Leider zeigt die Praxis, dass bei vielen Kindern allein wegen der Symptome ein Medikament gegeben und die wichtige Einsicht negiert wird: Ein aufmerksamkeitsgestörtes (hyperaktives) Kind ist vorrangig kein medizinisches Problem, sondern eine soziale und pädagogische Herausforderung.

Fehlende frühe Bindungserfahrungen im häuslichen Lebensraum
Bei zunehmend mehr Eltern wird eine "soziale Erschöpfung" festgestellt. Ihnen fehlt oft die Kraft, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Wir sehen in Kitas immer mehr Kinder die völlig verzweifelt, außer Rand und Band sind. Sie verstehen nicht, was mit ihnen los ist und was mit ihnen passiert, warum andere Kinder nicht mit ihnen spielen wollen. Es fällt ihnen schwer, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, wissen nicht wie sie ihre Gefühle ausdrücken und regulieren sollen. Sie stoßen auf Ablehnung, Kritik und Zurückweisung, erfahren kaum Erfolge, Anerkennung und Zuneigung und machen nur wenig sichere Bindungserfahrungen. Diese Kinder können kein Vertrauen in eine Welt finden, die sie weitgehend als feindlich erleben. Sie wehren sich verzweifelt gegen alles, was sie als gefährlich und überfordernd empfinden. Ihnen fehlen die frühen Bindungserfahrungen in ihrer familiären Lebenswelt.

Digitaler Stress
Eine weitere Bedingung können auch Fernsehen, Computerspiele und die Spielzeugindustrie sein, die Jagd auf die Kinder machen. Was tun, wenn die Teletubbies schon die Kleinsten vor den Schirm locken? Was sollen sie dem Konsumdruck und Markenterror entgegensetzen? Eltern sind oft ratlos und resignieren vor dem digitalen Stress, der bei immer jüngeren Kindern auf dem Vormarsch ist. Tatenlosigkeit beim Zuschauen lähmt den Willen des Kindes, das von der vorgegebenen Welt abhängig ist. Außengeleitet und lediglich konsumierend ist das Kind nicht oder nicht hinreichend in sich geborgen und frei für eigenes schöpferisches Tun. Da es primär auf Reize zu reagieren lernt, fehlt ihm ein Agieren aus dem eigenen Kraftzentrum. Es kann nicht hinreichend selbstwirksam tätig sein. Ganz offensichtlich halten uns die Kinder einen entlarvenden Spiegel vor: Sie sind Kinder unserer Zeit und Umwelt.

Willenskraft wird beeinträchtigt
Die Kinder sind im Grunde nicht fähig, sich aus eigener Kraft aus ihrem inneren Zentrum (Ich oder Selbst) heraus für längere Zeit zu sammeln, auf einen Bildungsgegenstand zu konzentrieren und sich mit ihm lernwirksam auseinanderzusetzen. Es gelingt ihnen nicht zusammen mit anderen sich ihre Welt so anzueignen, wie sie es ursprünglich aus ihrem innersten Kraftzentrum heraus wollen. Für Josef Weizenbaum, Pionier der Computertechnik, ist der kindliche Geist ursprünglich voll von kreativer Phantasie. Diese werde aber gestört, wenn das Kind bedingungslos ihm von außen aufgenötigten Regeln folgt.

Diagnostische Kriterien 
Kinder mit hyperkinetischen Syndromen (HKS, mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndromen (ADS) und Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) zeigen folgende Auffälligkeiten:
  • Unaufmerksamkeit/Desorganisation: Die Kinder können ihre Aktivität nicht selbst in die Hand nehmen oder zu Ende führen, sind unkonzentriert und ablenkbar, können ihre Zeit nicht einteilen, ordnen sich in die Gruppe schlecht ein, machen viele Flüchtigkeitsfehler und wirken häufig geistesabwesend.
  • Hyperaktivität: Kinder zeugen motorische Unruhe (Bewegungsunruhe), wirken innerlich unausgeglichen, können sich nicht ausreichend entspannen.
  • Impulsivität: Kinder führen häufig unüberlegte Handlungen aus, können die Konsequenzen nicht einkalkulieren und kontrollieren; auf Kritik reagieren sie mit Wut.
  • Emotionale Instabilität: Kinder zeigen raschen Stimmungswechsel ohne besonderen Anlass, sind schnell ermüdbar und vermindert belastbar.
Wie kann den Kindern geholfen werden?
Ritalin gegen Hyperaktivität? Beunruhigend ist die sich rasch ausweitende Anzahl kinderpsychiatrischer Praxen. Sie haben lange Wartelisten. Die Zahl der Zwei- bis Vierjährigen, die Psychopharmaka schlucken, hat sich im letzten Jahrzehnt verdreifacht. An erster Stelle steht die Verschreibung des Aufputschmittels (Psychostimulans) Methylphenidat (Ritalin), das der Betäubungsmittelverordnung unterliegt. Nach amerikanischen Studien bekommt etwa jedes vierte Kind unter sieben Jahren Ritalin verordnet.

Nach führenden ADHS-Forschern hat sich von 1993 bis 2010 die Absatzmenge von Medikamenten mit dem Wirkstoff Methylphenidat von 34 Kilogramm auf knapp 1,8 Tonnen erhöht. Inzwischen füllt die Fachliteratur lange Bücherregale, die Internet-Suchmaschine weist bei ADHS über 1,8 Millionen Links aus.
In seiner Studie "Die Ritalin-Gesellschaft. ADS: Eine Generation wird krankgeschrieben" zeigt Richard De-Grandpre auf, wie die heutige Gesellschaft, in der Eile und Beschleunigung vorherrschen, das Bewusstsein der Kinder und ihr emotionales Befinden verändert und welchen Preis sie für die Einnahme von Stimulanzien bezahlen. Davon betroffen sind besonders Kinder aus sozioökonomisch prekären Herkunftsfamilien. Im Zentrum ihrer Entwicklungsprobleme ist die Erfahrung der Ungeborgenheit, ein Gefühl der inneren Ruhelosigkeit und der dominierenden Angst (Klein 2019, S. 78).

Warnung In medizinischen Fachzeitschriften wird vor der Verdachtsdiagnose HKS, ADS oder ADHS gewarnt, mit der vor allem Eltern das auffällige Verhalten des Kindes etikettieren. Sie kennen nicht nur die Diagnose, sondern wissen dann auch gleich, welche medikamentöse Therapie angesagt ist. Das entlastet sie nur scheinbar und hilft dem Kind gar nicht. Und im pessimistischen Sogder Zeit können dann die Erwartungen zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) führen, ins Negative umschlagen und weitere Probleme schaffen. Kinder, die mit dem Psychopharmakon Ritalin behandelt werden, neigen häufig zum frühen Drogenkonsum und hoher Straffälligkeit. Eine Überdosierung kann zu psychotischen Zuständen führen. Schwerpunktpraxen mit Kinder- und Jugendärzten, Psychologen und Therapeuten sollen gefährdete Entwicklungsbiographien verhindern oder (wieder) normalisieren.

Hilfe in das Gesamtkonzept einbinden Der Neuropädiater Gerhard Neuhäuser hebt hervor, dass eine medikamentöse Behandlung immer eingebettet sein muss in ein pädagogisches Gesamtkonzept, das vor allem Aufklärung und Beratung der Eltern beinhaltet (Neuhäuser/Klein 2019). Ein solches Angebot wird in der sozial-psychiatrischen Versorgung vorgehalten, beispielsweise in systemisch ausgerichteten kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen in denen multiprofessionelle Teams arbeiten. Die Entwicklungshilfe ist auf den inneren Halt des Kindes konzentriert, achtet seinen Willen und seine Gefühle.

Frühe einfühlsame Begleitung Sozial- und Neuropädiater, Kinderpsychologen und Neurobiologen fordern für diese Kinder – und letzlich im Grunde vorbeugend für alle Kinder – eine frühe einfühlsame pädagogische Begleitung, die ihnen ihre Kindheit wiedergibt und sie nicht zu früh erwachsen werden lässt, denn die Seele der Kinder braucht Zeit und einladende Lebens- und Lernräume, in denen sie sich wohl fühlen, innerlich stärken und wachsen können.

Übungen zur Konzentration Wir kennen Erfolg versprechende Hilfe – ohne Medikament. Es wurden Übungsprogramme zur Konzentration entwickelt, die Spaß machen und einfach zu verwirklichen sind:
  • Geben Sie wichtige Informationen in der Nähe des Kindes und ihm zugewandt, artikulieren Sie deutlich, ohne dabei zu übertreiben.
  • Ergänzen Sie mündliche Informationen möglichst durch eine visuelle Informationsdarbietung: Bilder oder Blätter.
  • Ermuntern Sie das Kind zum Nachfragen und achten Sie darauf, dass dies von den anderen Kindern nicht als Unaufmerksamkeit abgewertet wird.
  • Sorgen Sie möglichst für Ruhe oder ruhiges Sitzen, zumindest solange wichtige Dinge angesprochen werden.
  • Akzeptieren Sie, wenn sich das Kind eine Pause gönnt, versuchen Sie aber auch, es durch Ansprache in die Gruppe einzubinden.
  • Machen Sie häufig Einzelübungen (Spiele, rhythmische Übungen) mit dem Kind, versuchen Sie dabei zu gegebener Zeit auch ein anderes Kind in die Übungssituation einzubeziehen, so dass daraus nach und nach Partner- und Gruppenspiele werden.
  • Halten Sie regelmäßig Kontakt zum Elternhaus.
Rhythmische Erziehung Die Hinweise zur aufmerksamen und und einfühlsamen Begleitung sind gut durch rhythmische Erziehung zu ergänzen. Sie kann das "Übel an der Wurzel" fassen und dem Kind helfen, sich einer Aufgabe konzentriert zuzuwenden, Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme auszugleichen (Klein 2012, S. 106ff).
Jedes Kind hat von Beginn an ein Bedürfnis nach Rhythmus und Kontinuität, nach Übung und Wiederholung. Wird diesem Bedürfnis entsprochen, dann bilden sich feste Gewohnheiten aus: Rhythmen führen zu Gewohnheiten und Gewohnheiten stabilisieren die Rhythmen. Dadurch kann das Kind sein Verhalten strukturieren und soweit möglich normalisieren.
Kehren bestimmte Ereignisse und Tätigkeiten zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Räumen wieder, dann kann es feste Gewohnheiten entwickeln, die ihm Sicherheit geben. Forschungen zur inneren Uhr, zu biologischen Rhythmen (Chronobiologie) bestätigen, dass wiederkehrende periodische Zeitstrukturen beim Kind körperlich-seelische Selbstheilungskräfte wecken.

Die Kita-Fachkraft kann sich folgende Fragen stellen:
  • Was sind für dieses Kind immer wiederkehrende und sich wiederholende Erlebnisse? Wie kann ich diese gestalten?
  • Was sind besondere, sich wiederholende Tages- und Wochenereignisse? Wie kann ich diese gestalten?
  • Was sind besondere einmalige Ereignisse? Wie kann ich diese gestalten?
  • Was ändert sich dem Inhalt nach, bleibt aber im Prinzip erhalten? Wie kann ich den Inhalt gestalten?

Fazit
  • Kinder mit beeinträchtigter Aufmerksamkeit haben ein Bedürfnis nach einfühlsamen Beziehungen, körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation, nach entwicklungsgerechten Erfahrungen, nach Strukturen und stabilen unterstützenden Gemeinschaften. Sie benötigen einen Erziehungsraum, in dem sie sich aus eigener Initiative zu beziehungs- und lernfähigen Menschen entwickeln können.
  • Für diese Kinder ist die Umgebung so zu gestalten, dass sie ihrem Bedürfnis nach einem strukturierten Lebensraum entspricht, ihnen Kontinuität, Rhythmus und Wiederholungen ermöglicht. Das schafft Freude und Wohlbefinden, bewegt zu geordnetem Tun und stärkt ihre Fähigkeit zur Selbstregulation (Opp 2018, S.11).

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Autor
Klein, Ferdinand, Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik, war 14 Jahre in der pädagogischen Praxis tätig.

Literaturhinweise
Klein, F. (2012): Inklusion von Anfang an. Bewegung, Spiel und Rhythmik in der inklusiven Kita-Praxis. Köln (Vertrieb: Schaffhausen, SCHUBI Lernmedien AG).

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. München.

Klein, F. (2019): Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita. Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 3. Auflage. Köln.

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. München (in Vorbereitung).

Opp, G. (2018): Wenn Kinderseelen leiden. In: spuren - Sonderpädagogik in Bayern, 61. Jg., Heft 3, S. 7-15.