Silke Hubrig: »Doktorspiele in der Kita« (Januar 2021)
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In wahrscheinlich jeder Kita finden die so genannten „Doktorspiele" statt. Kinder erkunden gemeinsam spielerisch ihre Genitalien. Manche pädagogische Fachkräfte reagieren darauf beschämt, gehemmt oder auch ängstlich. Meist liegt diese Verunsicherung daran, dass Erwachsene keine reflektierte Haltung zur kindlichen Sexualität haben und nicht wissen, wie sie auf die sexuelle Ausdrucksweise reagieren sollen.

„Doktorspielen" als Synonym für gemeinsame, körperliche Entdeckungsreisen
Die kindliche Sexualität unterscheidet sich sehr von der Sexualität von Erwachsenen. Kindliche Sexualiät wird spielerisch, unbefangen, spontan und wissbegierig von den Kindern ausgelebt. Sie bezieht sich nicht nur auf die Genitalien, sondern auf alle Sinne und auf den ganzen Körper. Ungefähr mit dem dritten Lebensjahr beginnen Kinder, ihren Körper und den der anderen gemeinsam zu erkunden. Hierbei erforschen sie die eigenen Genitalien oder die der mitspielenden Kinder. Sie genießen die lustvolle Erregung, wobei es jedoch nicht (wie in der Erwachsenensexualität meist) um die Erlangung eines Orgasmus geht. Diese spielerischen, gemeinsamen körperlichen Entdeckungsreisen werden „Doktorspiele" genannt, weil sie oft in für dieses Alter typische Rollenspiele verpackt werden.
Manchmal spielen die Kinder dabei „ärztliche Untersuchung“. Oft denken sie sich aber auch ganz andere Rollenspiele aus. Im Kindergartenalter entwickeln Kinder ein Schamgefühl und sie spielen ihre Doktorspiele an für Erwachsene uneinsehbaren Orten, zum Beispiel im Gebüsch, in der Toilettenkabine oder auf der Hochebene im Gruppenraum. Für ihre Spiele spielen Kinder desselben Alters bzw. des ungefähr ähnlichen Entwicklungsstandes zusammen. Jungen und Mädchen spielen geschlechtergetrennt oder auch gemeinsam. So wie in anderen Spielen auch, spielen sie freiwillig und gleichberechtigt miteinander. Es kommt dabei oft vor, dass es Kinder gibt, die nicht aktiv mitspielen, sondern lediglich zuschauen. Bei den Doktorspielen ist es so, wie bei anderen Spielen im Vorschulalter: Wenn etwas anderes Interessantes das Spiel durchkreuzt, der Gong zum Morgenkreis erklingt oder die Kinder keine Lust mehr haben, wenden sich die Kinder dem Wichtigeren zu und beenden das Spiel.

Doktorspielen ist ein Bestandteil der kindlichen, sexuellen Entwicklung
Jeder Mensch ist von Geburt an ein sexuelles Wesen und äußert die Sexualität je nach Entwicklungsstufe auf unterschiedlichste Weise. So wie sich ein Kind in allen Entwicklungsbereichen entwickelt, geschieht es auch mit der sexuellen Entwicklung. Die sexuelle Entwicklung ist ein Teil der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung von Kindern und ist ebenso bedeutsam wie andere Entwicklungsbereiche. Kinder wollen die Welt entdecken und sie sich aneignen. In anderen Bereichen wird dieser Forscherdrang und Wissensdurst pädagogisch gefördert. Im Bereich Sexualität nimmt diese Unterstützung in der KiTa wenig bis keinen Raum ein. Im Rahmen von Doktorspielen eignen sich Kinder selbstbestimmt ihren Körper an – es findet also eine sexuelle Weltaneignung statt. Doktorspielen sollte also nicht als Spiele in einer Phase abgetan werden, welche geduldet werden in der Hoffnung als pädagogische Fachkraft nicht weiter damit konfrontiert zu werden.
Im Rahmen dieser freiwilligen, selbst gestalteten Spiele können Kinder vielfältige Bildungserfahrungen machen. So lernen die Kinder ihre Gefühle wahrzunehmen. Sie haben die Möglichkeit zu lernen, „Ja!“ zu etwas zu sagen, was ihnen schöne Gefühle bereitet und und „Nein!“ zu sagen, wenn sie etwas nicht (mehr) möchten. Hierbei geht es nicht nur darum, die eigenen Grenzen kennenzulernen und auszudrücken, sondern auch die der anderen wahrzunehmen und zu respektieren. Die Kinder lernen beim gegenseitigen Erkunden der Körper oder beim Zuschauen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geschlechter kennen.

Doktorspielen muss pädagogisch begleitet werden
Damit diese Erkundungsspiele für alle beteiligten Kinder schön verlaufen, sollten sie pädagogisch begleitet werden. Um sexuelle Übergriffe zu vermeiden, sollte die Fachkraft mit den Kindern Spielregeln erarbeiten und aufstellen. In diesem Rahmen ist es von großer Bedeutung, dass die Kinder die korrekten Bezeichnungen für Genitalien, wie Scheide und Penis kennenlernen und verwenden. Daneben ist die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Geheimnissen wichtig: Manchmal setzen sexuell übergriffige Kinder andere Kinder unter Druck und sagen ihm, das „besondere Spiel“ sei ein Geheimnis und es dürfe niemals verraten werden. Die pädagogische Fachkraft muss den Kinder erläutern, dass es schlechte Geheimnisse gibt, die weiter erzählt werden dürfen. Indikator für ein schlechtes Geheimnis ist immer das eigene Gefühl. Fühlt es sich nicht richtig oder unangenehm an, ist es kein gutes Geheimnis. Die Kinder sollen ermutigt werden, sich Hilfe zu holen. Und dieses ist kein Petzen.

Spielregeln für Doktorspiele aufstellen
Damit es bei Erkundungsspielen nicht zu sexuellen Übergriffen kommt, sollte die pädagogische Fachkraft mit den Kindern über ihre Selbstbestimmungsrechte sprechen. Sie könnten wie folgt zusammengefasst werden: „Niemand darf dich berühren, wenn du es nicht willst.“, „Du darfst immer nein sagen, wenn dich jemand berührt und es sich nicht gut anfühlt.“ und „Wenn das Kind nicht aufhört, darfst du dir Hilfe von einem Erwachsenen holen.“ Solche Spielregeln sollten gemeinsam mit den Kindern erarbeitet und für alle verbindlich aufgestellt werden. Die Fachkraft kommt mit den Kindern ins Gespräch und formuliert Regeln, wie „Wenn ein Kind „Stopp!“ sagt, ist das Spiel vorbei.“ oder „Jedes Kind entscheidet für sich, ob es mitspielt und mit wem es spielt.“ Darüber hinaus sollten Fachkräfte die Regel aufstellen, dass die Kinder sich nichts in Körperöffnungen stecken dürfen und dass ältere und jüngere Kinder das Spiel nicht zusammen spielen sollen. (Vgl. Hubrig , S. 2014, S. 44)

Die Regeln müssen erlernt werden
Mit der Aufstellung der Spielregeln, ist das Thema jedoch nicht erledigt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich alle Kinder an die Regeln halten können oder werden. Voraussetzung für die Einhaltung der Regeln ist beispielsweise, dass ein Kind auch „Stopp!“ sagt, wenn es etwas nicht möchte und zwar so, dass es das andere Kind auch entsprechend wahrnimmt. Ein Kind muss auch in der Lage sein, seine Gefühle wahrzunehmen und sich nichts Gegenteiliges einreden zu lassen. Fühlt es sich beispielsweise für ein Kind nicht schön oder richtig an, wenn es sich mit den anderen Kinder auszieht, so muss es bei dem Gefühl bleiben und dieses äußern können. Es sollte sich nicht verwirren lassen, wenn andere Kinder ihm einreden, dass es aber schön sei. Zudem müssen die Kinder wissen, zu wem sie gehen können, wenn ein Kind gegen eine Spielregel verstößt und sich auch trauen, es zu tun. Zur Förderung dieser Kompetenzen finden sich in Fachbüchern und im Internet viele Praxisideen. Diese müssen sich nicht immer auf den sexuellen Bereich beziehen.

Wenn Kinder sexuell grenzüberschreitend sind
Wenn ein Kind die Regeln beim Doktorspielen nicht einhält, kommt es zu sexuellen Grenzüberschreitungen. Diese gehen mit Unfreiwilligkeit und unausgeglichenen Machtverhältnissen (z. B. durch einen unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder) einher. So besteht beispielsweise eine Grenzverletzung, wenn ein Kind gezwungen wird beim Doktorspielen mitzumachen, obwohl es äußert, dieses nicht zu wollen. Ein sexueller Übergriff darf nicht geduldet und nicht verharmlost werden. Berichtet ein Kind von derartigen Erlebnissen, kann davon ausgegangen werden, dass sie stimmen. Das Thema Sexualität ist viel zu sehr mit Scham und Peinlichkeit belegt, als das Kindergartenkinder es nutzen würden, um sich interessant bei den Erwachsenen zu machen und um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Fachkraft sollte kindgerecht mit allen Beteiligten der Situation sprechen und das Kind, welches die Grenzen eines anderen
verletzt hat, muss sich mit seinem Fehlverhalten auseinandersetzen. Für das
erleidende Kind ist es wichtig, dass das übergriffige Kind keine Macht mehr
über es hat, sondern dass die Fachkraft nun die Fäden in der Hand hält. Wenn in
der Kita sexuelle Übergriffe stattfinden, stattfanden oder darüber geredet
wird, dass es diese außerhalb der Kita gab, müssen pädagogische Fachkräfte
einschreiten. Um dem Kind, welches in dieser ohnmächtigen Situation war, dem
Kind welches ein sexuell übergriffiges Verhalten zeigte und auch den Eltern
beider Kinder gerecht zu werden, sollten Fachkräfte sich an eine entsprechende
Beratungsstelle wenden und sich dort adäquate Hilfe holen. Dies gilt auch,
wenn pädagogische Fachkräfte sexuelle Handlungen bei Kindern beobachten oder
von ihnen berichtet wird, die nicht mehr als normale kindliche sexuelle
Aktivität bezeichnet werden können, wie etwa wenn ein Kind Geschlechtsverkehr
mit einem anderen Kind praktizieren will.

Mit den Eltern kooperieren
Die Meinung von Eltern zu Doktorspielen in der Kita ist sehr unterschiedlich. Während die einen Angst haben, ihr Kind würde zu etwas Unangemessenem gezwungen werden, finden andere es „ganz natürlich“. Wiederum andere Eltern denken, dass ihr Kind gar keine sexuellen Spiele durchführen würde und es auch nicht auf derlei Gedanken gebracht werden soll. Pädagogische Fachkräfte sollten Eltern darüber aufklären, dass Doktorspielen zu einer normalen kindlichen Entwicklung gehört. Hilfreich ist dabei ein Elternabend, auf dem das pädagogische Team ihr sexualpädagogisches Konzept vorstellt. Auch für Eltern ist es wichtig, die sexuellen Ausdrucksformen ihrer Kinder einordnen zu können, Worte dafür zu finden und eine Haltung sowie einen Umgang damit zu entwickeln. Eltern haben die Möglichkeit, den pädagogischen Fachkräften Fragen zu stellen, ihre Unsicherheiten zu formulieren und mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. Insbesondere für Eltern aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ist dieser Austausch wichtig.

Abschluss
Doktorspielen ist ein Ausdruck einer normalen kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter. Die KiTa ist ein Ort, der den Kindern eine sichere Umgebung für Doktorspiele bieten kann. Sie sollten als Teil des sexualpädagogischen Konzeptes der KiTa pädagogisch begleitet werden. Diese Begleitung, in der die Kinder beispielsweise lernen, dass sie „Nein!“ sagen dürfen, wenn sich eine Berührung nicht schön anfühlt, ist ein wichtiger Teil der Prävention von sexuellem Missbrauch. Kinder sollten ihre sexuellen Ausdrucksweisen nicht an der Garderobe der KiTa abgeben müssen, sondern im angemessenen Rahmen positiv wahrnehmen und leben dürfen.

Quellen:
  • https://www.praevention-bildung.dbk.de/fileadmin/redaktion/praevention/microsite/Downloads/Zartbitter_Doktorspiele_druckgesperrt.pdf, Stand 14.02.2020
  • https://www.elternimnetz.de/kinder/erziehungsfragen/schuetzen/uebergriffe.php#, Stand 15.02.2020Hubrig, Silke: Sexualerziehung in Kitas. Die Entwicklung einer positiven Sexualität positiv begleiten. Weinheim, Beltz Verlag, 2014
  • Schmidt, Renate-Berenike/Sielert,Uwe: Sexualpädagogik in beruflichen Handlungsfeldern. Köln, Bildungsverlag EINS, 2012
  • Wanzeck-Sielert, C. Kursbuch Sexualerziehung. So lernen Kinder sich und ihren Körper spielerisch kennen. Münschen, DON BOSCO, 2004