Bettina Effner: Die Malentwicklung der grafischen Formen: Von der Linie zu ersten Figuren

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Die Malentwicklung der grafischen Formen: Von der Linie zu ersten Figuren

Die Zeit im Übergang von U3 zu Ü3
Wenn Sie aufgefordert würden, einen Kreis, ein Viereck oder all die weiteren ersten Formen in der Malentwicklung zu zeichnen, käme wahrscheinlich die Frage auf, warum Sie eine derart leichte Aufgabe erledigen sollen. Sie erledigen sie dennoch gerne.
Sie erledigen diese Aufgabe gerne, weil Ihnen das Zeichnen entsprechender Grundformen in Fleisch und Blut übergegangen ist, und sie immer noch das angenehme Gefühle damit verbinden von: leicht, kann ich.

Das, was wir Menschen wahrscheinlich seit zehntausenden von Jahren als selbstverständliches Können empfinden, hat eine Entwicklung hinter sich, die uns als Erwachsenen nicht mehr bewusst ist. Kinder malen, wenn sie die Motivation dazu verspüren. Der Auslöser kann natürlich ein Vorbild sein, aber wenn Kinder keine Freude an der Tätigkeit verspüren, bleibt es freiwillig nur bei einem flüchtigen Kennenlernen. Aber auch ohne Vorbilder widmen sich Kinder dieser Form des kindlichen Spiels. In der Fachsprache bezeichnen wir die Motivation als „Malimpuls“. Offensichtlich spüren Kinder diesen Impuls in unterschiedlicher Art und Weise, denn es gibt Kinder, die viel und gerne zeichnen und jene, die dies weniger oder gar nicht gerne tun. Für Erzieher stellt sich dann die Frage, ob sie die Entscheidung zum Malen als „Freiheit des Spiels“ einordnen und es dabei belassen oder ob sie Kindern die Chance geben, Freude an der Tätigkeit zu gewinnen, indem sie niederschwellige Aktivitäten mit Farbe und Malmaterialien anbieten.
Alle Forscher, die sich mit dem Thema der Malentwicklung beschäftigt haben, sind zu der Erkenntnis gekommen, dass das Malen und Zeichnen einen Entwicklungsprozess darstellt, der von recht konstanten Entwicklungsmerkmalen und einem Verlauf mit Zeitabschnitten gekennzeichnet ist, wie Sie das von anderen Entwicklungsbereichen ebenfalls kennen.

Zwei Entwicklungslinien bestimmen den ersten Zeitabschnitt der Malentwicklung
Zuerst müssen wir uns bewusst machen, dass das Malmaterial auch die Motorik herausfordert, ohne die es kein Mal-Spiel gäbe.Wenn Kindern Papier der Blattgröße DIN A4 zur Verfügung gestellt wird, müssen sie ihr Handgelenk und die Finger unter Kontrolle bringen, um ihre ersten Spuren zu Papier zu bringen. Malen Kinder mit Pinseln auf DIN A2 oder 1, wird dagegen ihr ganzer Arm beansprucht, da Stift oder Pinsel weite Wege zurücklegen können. Ein weiterer Unterschied besteht darin, ob Kinder auf dem Boden, am Tisch oder an einer Wand/Staffelei malen.
Zu Beginn erscheint auf dem Papier das, was landläufig als „Kritzeln“ bezeichnet wird und bei dem wir zwei Entwicklungslinien unterscheiden können. Die eine Linie entsteht aus einer Drehgebärde (vgl. A. Stern), zu der je nach Blattgröße Kinder ihr Handgelenk oder den ganzen Arm benutzen. Aus der Drehgebärde entstehen gerundete Linien, die das Blatt mal heftiger, mal sanfter, füllen. Mit der Zeit kann eine Linie so langsam ausgeführt werden, dass ihr Ende mit dem Anfang verbunden wird und ein Kreis, ein Oval oder eine Tropfenfigur entstehen.
Die zweite Entwicklungslinie beginnt mit dem meist heftigen Beklopfen des Blattes und hinterlässt „Punkte“ und kleine Striche an deren Enden. Danach folgen kurze Striche, bei denen der Arm bzw. das Handgelenk nach vorne gebracht wird, um dann in einer Rückwärtsbewegung nach hinten gezogen zu werden. Je langsamer die Bewegung ausgeführt werden kann, desto kontrollierter erscheint der Strich. Kreuz und quer und dann gezielt von oben nach unten und von rechts nach links.

U3-Kinder bringen gerne etwas „in die Reihe“
Während sich das Geschehen auf dem Blatt Papier von Linien zu Formen entwickelt, können Sie im U3-Bereich Entwicklungen beobachten, die sich sowohl in der Bildgestaltung als auch im Alltag zeigen. Gemeint ist das kindliche Bedürfnis nach Ordnung und Struktur. Jungen Kindern ist daran gelegen, dass sich Dinge an ihrem bestimmten Platz befinden und sie fangen selbst an, Dinge in Reihen anzuordnen. Das können alle möglichen Dinge sein, angefangen von Schuhen bis zu Spielzeugautos. Vielleicht erinnern Sie sich noch an Setzkästen, in denen kleine Sammlungen ausgestellt wurden, bis dieser Trend und damit auch seine pädagogische Absicht in Vergessenheit gerieten. Setzkästen gibt es mit unterschiedlich vielen Fächern, die längs und quer eingeteilt sind und Kinder herausfordern, z.B. Spielzeugautos, Steine oder schöne Dinge in der gleichen Reihe unterzubringen. Kinder sortieren Dinge nach Merkmalsgruppen: z.B. Autos nach Farben, Größen, als Nutzfahrzeuge, Lkws oder Pkws. Das jeweilige Kind fühlt sich herausgefordert, eine Ordnungsstruktur zu finden, die es zufrieden stellt. Bietet das Material mehrere Möglichkeiten, probiert es deren Variationen aus und ordnet seine Dinge immer wieder neu ein.
Reihen entstehen auch auf dem Blatt und unterteilen den Blattraum. Manchmal in einer Farbe oder mehrfarbig. Sie erscheinen in gleicher oder unterschiedlicher Länge und als Striche oder Farbbündel. Bei dem einen Kind tauchen die Reihen auf dem Blatt Papier im dritten Lebensjahr auf und bei anderen Kindern zu einem späteren Zeitpunkt, da Entwicklungen zwar wie ein Programm ablaufen, jedoch zu individuell unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Intensität.
Aus den beiden obengenannten Bewegungsabläufen entstehen die ersten Formen, auch Urformen oder Erstfiguren genannt (vgl. A. Stern) werden. Manche Erstfigur gehört mit ihrer dominanten Form zu der einen Entwicklungslinie, obwohl sie ebenfalls Anteile der anderen Entwicklungslinie aufweist. Ein Beispiel dafür ist die Strahlenfigur, deren dominante Form der Kreis ist, den Striche (der anderen Entwicklungslinie) als Strahlen, Blütenblätter oder als Speichen beim Schiffssteuerrad umgeben. Häufig spüren Kinder das Bedürfnis, den Mittelpunkt der Dinge zu bestimmen. Als Beobachter erkennen wir an Punkten oder kleinen Kreisen auch das kindliche Wissen um „Innen und Außen“. Formen und Figuren mit dem Mittelpunkt sind ein Phänomen, das über alle Zeitabschnitte hin erhalten bleibt. Im zweiten Entwicklungsabschnitt erscheint der Mittelpunkt z.B. als Bauchnabel und als Dachfenster im Giebel eines Hauses.
Die ersten Figuren aus der „Drehgebärde“ stehen in einer engen Beziehung zueinander. Das sind der Kreis, das Viereck aus einer Linie, die Spirale und die Tropfenfigur, die sich zum Dreieck entwickelt. Es gesellen sich weitere Figuren dazu, indem z. B. Striche die Form unterteilen. Meist mit Punkten bzw. dem Mittelpunkt in den einzelnen Teilebereichen.
Gleichzeitig erscheinen die ersten Formen aus zusammengesetzten Strichen. Eine der ersten kann man fast als Kultfigur bezeichnen: das Kreuz bzw. die bildliche Darstellung von „Oben und Unten“ und „Rechts und Links“. Spannend sind dann die Kombinationen von zwei, drei und vier Strichen zu unterschiedlichen Winkelformen. In der Grafik erkennen Sie einige Erstfiguren aus dem Strich. In Alexanders Bild kündigen sich die grafischen Winkelformen durch die Richtungswechsel in der Linienführung an. Gleichzeitig zeigt dieses Bild, dass meist beide Entwicklungslinien, die aus der Drehgebärde und die aus dem Strich, ihre Spuren hinterlassen.
Alexander
Mit seinen grafischen Formen/Figuren, verfügt das Kind über ein Handwerkszeug, mit dem es spielen kann, bis es spontan eine Beziehung zwischen einer zufällig dargestellten Figur und einem realen Objekt wahrnimmt. Gelingt es dem Kind, das darzustellende Objekt (die Erstfigur mit bestimmten Details) willentlich aufs Blatt zu bannen und das zu jeder Zeit, hat es den Schlüssel zum absichtsvollen Gestalten in der Hand. Den Unterschied zwischen einer intuitiv gezeichneten Erstfigur und einem beabsichtigten Gebilde erkennen Sie im Vergleich der Bilder von Klara und Hanna.
Klara hat eine Tropfenfigur als Vorläufer des Dreiecks gezeichnet und sie mit Reihen von farbigen Zackenlinien gefüllt. Hanna hat aus der Erstfigur „Dreieck“ einen Igel gestaltet. Durch den kleinen Kreis als Auge, die kurzen und längeren Striche als Stacheln, die Strichbündel als Beine und über die Farbe konnte sie Strukturen schaffen, mit denen sich der Igel darstellen ließ. Hanna besitzt ein inneres Bild vom Igel und sie weiß, dass er Stacheln, Beine und ein Auge hat. In der optischen Wahrnehmung sieht der reale Igel anders aus. Unsere Erwachsenenperspektive bewertet Hannas Bild als „fehlerhaft“, da unsere Wahrnehmung automatisch die kindliche Darstellung korrigieren muss. In Hannas Igelbild fehlt das Schnäuzchen und weder die Formen noch die Farben entsprechen der Realität. Dennoch erkennen wir in der Darstellung den Igel, weil wir auch den Symbolcharakter des Bildes (die Zeichnung steht für etwas Lebendiges) entschlüsseln können.
Klara
Hanna
Erst wenn das Wissen um die typisch kindlichen Entwicklungsmerkmale vorhanden ist, kann der Drang nach einer korrigierenden Bewertung unterdrückt werden.

Die „Fähigkeit zur Synthese“ benötigt viel Zeit, um sich entwickeln zu können
Wir bewegen uns mit diesen Beobachtungen immer noch im ersten Zeitabschnitt. Obwohl Kinder nun beginnen, mit Darstellungsabsicht zu zeichnen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Kinder nicht ihre optische Wahrnehmung zu Papier bringen, sondern das, was sie über das einzelne Objekt wissen und erzählen wollen. Der französische Philosoph und Lehrer Georges-Henry Luquet (1876-1965) sah die „Fehler“ in Darstellungen in der kindlichen „Unfähigkeit zur Synthese“ begründet. Als „Fehler“ werden die Merkmale in Kinderbildern bezeichnet, die für uns ein typisch kindliches Bild ausmachen, wie die anderen Größenverhältnisse, die Proportionen, die perspektivische Anordnung oder der spezielle Gebrauch von Farbe. Ersetzt man dagegen den Begriff „Unfähigkeit“ durch „Fähigkeit“, verändert sich die Bewertung und es geht nicht mehr um Fehler, die ausgemerzt werden müssen, sondern „Fehler“ werden als notwendige Entwicklungsmerkmale akzeptiert. Die „Fähigkeit zur Synthese“ bedeutet dann, dass sich in einem langen Entwicklungsprozess das Wissen von den Dingen Schritt für Schritt mit der optisch-realistischen Wiedergabe der Dinge verbindet.
Wir können diesen Vorgang in der Malentwicklung und im allgemeinen Entwicklungsgeschehen beobachten. Die Fähigkeit zur Synthese komplexer Wahrnehmungen benötigt Zeit und Geduld. Sie haben bestimmt schon die Beobachtung gemacht, dass junge Kinder beim Spiel mit der Holzeisenbahn anfangs mit der Lok zufrieden sind und nicht das Bedürfnis haben, sich zuerst einen Schienenkreis zu bauen, höchstens ein kurzes Schienenstück. Erst später werden Waggons drangehängt. Die „Fähigkeit zur Synthese“ zeigt sich beim Spiel mit der Holzeisenbahn im zunehmend komplexen Zusammenspiel von Zügen, Waggons, Schienen, Brücken und Schranken. In einem anderen Beispiel genügt Kindern eine ganze Weile die Puppe ohne Kleidung und sie wird anfangs auch nicht zugedeckt. Erst mit der Zeit entsteht der Wunsch, ihr ein Teil anzuziehen. Genauso braucht es Zeit, bis sich auf dem Blatt Papier aus einzelnen Formen und Erstfiguren Gebilde entwickeln und der zweite Zeitabschnitt der Malentwicklung mit der Darstellung von ersten Menschen, Häusern und Pflanzen beginnen kann.
Die Fähigkeit zur Synthese ist ein wichtiges Kriterium von Entwicklung und im zweiten Zeitabschnitt geht es genauso heftig mit den Entwicklungen weiter. Die Figuren werden immer komplexer ausgestattet. Die Proportionen verändern sich, wenn der Kopf kleiner wird als der Bauch und um die Zeit der Schulreife herum gehen die Füße in eine Richtung und die Zeit der Profildarstellung beginnt.
Diese Beispiele zum ersten Zeitabschnitt rufen uns ins Bewusstsein, dass die Malentwicklung viele Bezüge zur allgemeinen Entwicklung aufweist und dass zu jeder Zeit viel in Bewegung ist. Ihre verständnisvollen Beobachtungen sind dabei ein ungeheuer wichtiges pädagogisches Handwerkszeug auf dem anspruchsvollen Weg der Professionalisierung.
Weitere Forschungsergebnisse, zahlreiche Beispiele und Konzepte zur kindlichen Malentwicklung finden Sie in Frau Effners Buch Kinderbilder und das Bild vom Kind.