Silke Hubrig: „Bindungsmuster im Kindergarten – Kinder verstehen und sie unterstützen" (August 2020)

© stock.adobe.com/bluedesign
Der Fachartikel im pdf-Format!
Jedes Neugeborene hat ein angeborenes Bedürfnis nach dem Aufbau einer engen und gefühlsintensiven Beziehung zu einem Menschen. Deshalb geht jedes Baby eine Bindung zu der Person ein, die sich hauptsächlich um es kümmert. Das Bindungsverhalten eines Babys dient dazu, Nähe zur Bezugsperson herzustellen.
So weint oder schreit es beispielsweise und drückt damit aus, dass es etwas braucht, wie etwa Nahrung. Je nachdem, wie die Bezugsperson auf das Bindungsverhalten des Kindes reagiert, entwickelt sich im Laufe der Zeit das Bindungsmuster. Jedes Kind kommt also mit einem bestimmten Bindungsmuster in die Kita. Besonders dann, wenn es um neue Beziehungen und Übergänge geht, wird das Bindungsverhalten aktiviert. 
Deshalb sind die Bindungsmuster der Kinder in der pädagogischen Arbeit von großer Bedeutung. 

Es werden vier Bindungsmuster unterschieden 

Um die Bindungsqualität zu testen, entwickelten Mary Ainsworth und ihre Kollegen den sogenannten „Fremde Situation Test“. Sie wollten herausfinden, wie sich ein Kind in Anwesenheit und in Abwesenheit der Mutter (als Hauptbezugsperson des Kindes) verhält. Es kristallisierten sich drei verschiedene Bindungsmuster heraus.
Beim sicher gebundenen Bindungsmuster vertraut das Kind darauf, dass die Bindungsperson bei Bedarf zuverlässig für es da ist. Die Bindungsperson reagiert angemessen und schnell auf die Signale des Kindes. Im Inneren des Kindes ist diese „liebevolle Zuverlässigkeit“ abgespeichert.
Beim unsicher-vermeidenden Bindungsmuster wird das Bindungsverhalten des Kindes deaktiviert und unterdrückt. Das Kind vermeidet Kontakt. Ein Kind mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster hat in der Regel eine Bezugsperson, die körperlichen Kontakt und Nähe zum Kind vermeidet oder ablehnt. Sie zeigt
wenig Gefühle, scheint desinteressiert an den Bedürfnissen des Kindes.
Das dritte Bindungsmuster wird als unsicher-ambivalent bezeichnet. Hier ist das Kind extrem auf die Bezugsperson fixiert. Es erlebt seine Bezugsperson als unberechenbar. So ist es ständig in „Alarmbereitschaft“, weil es sich nie sicher sein kann, wie seine Bezugsperson im nächsten Moment reagieren wird und ob seine Bedürfnisse erfüllt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt fügten Mary Main und Alice Salomon ein viertes Bindungsmuster hinzu: das desorganisierte Bindungsmuster. Die Kinder, die sie dieser Kategorie zuordnen, passen in keine der von Mary Ainsworth genannten Muster. Sie zeigen sehr widersprüchliche Verhaltensweisen. Dieses Bindungsmuster wird als ein „Steckenbleiben zwischen zwei Verhaltenstendenzen“, der Nähe zur Bindungsperson und der Abwendung
von ihr, gesehen und geht mit einem hohen Stresspegel einher (vgl. https://lexikon.stangl.eu/5727/bindungstypen.de, Stand 18.12.2019).
Pädagogische Fachkräfte können die Kinder nicht absolut in einem der genannten Bindungsmuster verorten. Kinder sind in der Lage, zu unterschiedlichen Bezugspersonen unterschiedliche Bindungsstile zu entwickeln. 

Wie können sich die Bindungsmuster in der Kita zeigen? 

Sicher gebundene Kinder zeigen in der Kita eine hohe emotionale Stabilität und eine hohe Sozialkompetenz. Sie sind hilfsbereit und kooperativ. Durch ihre Empathiefähigkeit sind sicher gebundene Kinder in der Lage, rücksichtsvoll zu sein. Sie haben ein stärkeres Selbstwertgefühl und mehr Selbstvertrauen als unsicher oder desorganisiert gebundene Kinder. Sie sind aufgeschlossen, neugierig und lernen gerne Neues kennen. Sicher gebundene Kinder können ihre Potenziale entfalten. Sie spielen kreativ und phantasievoll. Wenn sie etwas interessiert, können sie sich ausdauernd damit beschäftigen. Sicher gebundene Kinder gehen Herausforderungen in der Regel zuversichtlich an. Sie sind in der Lage, bei Bedarf um Hilfe zu bitten und angebotene Hilfe in Anspruch zu nehmen. Pädagogische Fachkräfte bezeichnen Kinder mit einem sicheren Bindungsmuster oft als „pflegeleicht“.
Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsverhalten werden auch oft als „pflegeleicht“ wahrgenommen. Sie sind häufig unauffällig und scheinen sehr angepasst. Sie zeigen nur wenig Gefühle und unterdrücken den hohen emotionalen Stress. Dadurch leiden sie still in sich hinein.
Unsicher vermeidend gebundene Kinder verleugnen den Beziehungsaspekt, und fokussieren sich im Kontakt mit anderen auf die Sache. Sie fallen dadurch auf, dass sie Probleme haben, positive Kontakte zu anderen Kindern und Erwachsenen zu knüpfen. Da sie von ihrer Bindungsperson oft mit ablehnendem Verhalten konfrontiert wurden, haben sie nur ein geringes Selbstwertgefühl. Um nicht in Abhängigkeit anderer Menschen zu geraten, versuchen sie jede Herausforderung
alleine zu meistern und sich auf sich selbst zu verlassen. Sie bitten ungern um Hilfe und haben Probleme, angebotene Hilfe anzunehmen. Unsicher-vermeidend
gebundene Kinder fallen manchmal dadurch auf, dass sie Gruppenregeln übertreten oder andere Kinder aggressiv behandeln. Dadurch möchten
sie sich möglicherweise unabhängig fühlen. Die distanzierte, vermeidende und konfliktreiche Beziehung zu Kinder mit einem unsicher-vermeidenden
Bindungsmuster ist für pädagogische Fachkräfte eine große Herausforderung.
Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsverhalten zeigen, dass sie kein Vertrauen in ihre Umwelt haben – und auch nicht in sich selbst. Die Kinder müssen sich immer wieder der Aufmerksamkeit der pädagogischen Fachkraft versichern. So dramatisieren sie zum Beispiel „Kleinigkeiten“ und fordern eine Reaktion der Fachkraft und klammern. Letztendlich lassen sie sich dann aber von ihr nicht zufriedenstellend trösten. Sie haben oft Angst vor Unbekanntem und zeigen sehr wenig Interesse, die Welt zu erkunden. Dieses Verhalten leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass die Kinder ständig damit beschäftigt sind, Bindung
zur Bezugsperson herzustellen. Es scheint, als wären Beziehungen zu anderen Kindern unwichtig und nur die pädagogische Fachkraft relevant.
Dieses klammernde Verhalten ist für die pädagogische Fachkraft im pädagogischen Alltag nicht immer leicht auszuhalten (vgl. Schleiffer 2016).

Liegt eine Bindungsstörung vor? 

Manchmal, aber nicht zwangsläufig, führen unsicher gebundene Bindungsmuster zu Bindungsstörungen. Hier muss das Kind therapeutische Hilfe bekommen. 
Kinder, die eine desorganisierte Bindung haben, zeigen überdurchschnittlich häufig aggressives und auffälliges Verhalten. In der Kita fällt pädagogischen Fachkräften auf, dass die Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster wenig sozial mit anderen Kindern umgehen und sich anderen gegenüber abwehrend, wenig wertschätzend und sogar feinselig zeigen. Dies resultiert wahrscheinlich daher, dass ihre Bezugspersonen mit ihnen ähnlich umgegangen sind. Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster haben meist eine Bindungsstörung und benötigen psychotherapeutische Unterstützung. 

Bindungsmuster lassen sich verändern 

Das Bindungssystem, das in den ersten Lebensjahren erworben wurde, ist ein Grundgerüst für die weitere psychische Entwicklung des Kindes und bleibt ein Leben lang aktiv. Je nach positiven oder negativen Lebensumständen und Beziehungserfahrungen im weiteren Leben ist es möglich, dass sich Bindungsmuster verändern. So kann ein unsicher gebundenes Kind durch sichere Beziehungs- und Bindungserfahrungen ein sicheres Bindungsmuster erwerben.
Diese positiven Erfahrungen können zum Beispiel durch eine Beziehung zur pädagogischen Fachkraft vermittelt werden. Leider funktioniert das auch umgekehrt. Ein sicher gebundenes Kind kann beispielsweise durch den Verlust eines Elternteils oder andere traumatische Erfahrungen ein unsicheres Bindungsmuster entwickeln.

Eine sichere Bindung von Kindern unterstützen 

Eine sichere Bindung ist die beste Grundlage für eine gesunde psychische Entwicklung eines Kindes. Sichere Bindungen können durch die pädagogische Arbeit in der Kita unterstützt werden. Das Kind muss sich auf die Fachkraft verlassen können. Es muss sich sicher sein können, dass es in Notsituationen, wie etwa bei starkem Trennungsschmerz oder wenn es von anderen Kindern geärgert wird, eine einfühlsame Hilfe bekommt. Das Kind muss konstant erfahren, dass seine Signale (durch Körpersprache, Worte oder Verhalten) von der Fachkraft wahrgenommen und richtig interpretiert werden sowie dass entsprechend darauf reagiert wird. 
Von besonderer Bedeutung ist die Eingewöhnungsphase in eine Kita, denn hier wird das Bindungsverhalten des Kindes aktiviert und steht im Mittelpunkt. Die Eingewöhnungszeit muss sehr bewusst und sensibel geplant und durchgeführt werden, denn sie ist der Start für die neue Bindung zwischen Fachkraft und Kind. Das
Kind benötigt ausreichend Zeit, um in seinem Tempo Vertrauen und eine positive emotionale Beziehung zur Fachkraft aufzubauen. Das geht nur durch feinfühlige gemeinsame Erfahrungen. Das Kind muss erleben können, dass seine Bezugsperson in der Kita ihn versteht, Schutz und Trost bietet und angemessen auf seine Signale eingeht. Es gibt verschiedene bewährte Modelle zur Eingewöhnung, die in Kitas umgesetzt werden. Dazu zählen beispielsweise das bekannte „Berliner Eingewöhnungsmodell" oder das „Münchner Modell". 

Fazit 

Kinder kommen mit Bindungsmustern in die Kita. Eine sichere Bindung ist eine gute Grundlage für eine gesunde Entwicklung. Kinder mit einer unsicheren Bindung haben durch die pädagogische Fachkraft die Möglichkeit, sichere Bindungserfahrungen kennenzulernen und zu verinnerlichen. Wenn dies gelingt, haben die Kinder eine bedeutende Ressource hinzugewonnen, die sich sehr positiv auf ihre weitere kognitive und sozial-emotionale Entwicklung auswirkt. 

Quellen und Literatur


  • Becker-Stoll, Fabienne/Werfein, Monika: Bindung und Trennungsangst im Übergang von der Familie in die Kita.Abrufbar unter: https://www.erzieherin.de/bindung-und-trennungsangst-im-uebergang-von-der-familie-in-die-kita.html,Stand: 12.12.2019
  • Jungmann, Tanja/Reichenbach, Christina: Bindungstheorie und pädagogisches Handeln.Dortmund, Borgmann MEDIA, 2013, 3. Auflage
  • Schleiffer, Roland: Lernen und Bindung im Kindesalter. 2016. Abrufbar unter:https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen//KiTaFT_Schleiffer_Lernenund_Bindung_2016.pdf,Stand: 18.12.2019
  • http://kindheiterleben.de/auswirkungen-der-bindungen-im-kindesalter.de, Stand: 17.12.2019
  • https://lexikon.stangl.eu/5727/bindungstypen.de, Stand: 18.12.2019