Silke Hubrig: >>"Der Morgenkreis beginnt!" - Rituale in der Kita<< (Dezember 2021)

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Eine Kita ohne Rituale? Kaum vorstellbar! Wahrscheinlich würde mit einem großen Chaos, mit Unsicherheiten und permanentem Aushandeln und Absprachen von Aktivitäten zu rechnen sein. Warum gibt es in der Kita Rituale und wie wirken sie entwicklungsfördernd auf die Kinder? Wer bestimmt die Rituale und sollten Rituale immer eingehalten werden?

Rituale sind vielfältig
Rituale sind bestimmte Handlungsabläufe, die zu bestimmten Anlässen und Zeiten wiederholt werden. Damit sind nicht nur gesellschaftliche, religiöse oder ganz individuelle Rituale wie die Trauerzeremonie, wenn ein Mensch gestorben ist, das Weihnachtsbaumschmücken für den heiligen Abend oder der Kaffee am Morgen gemeint. Auch im Kosmos Kita gibt es vielerlei Rituale, die das Leben in der Kita ausmachen. Diese sind alltägliche Rituale, wie das morgendlichen Anziehen der Hausschuhe oder der tägliche Morgenkreis um 9 Uhr. Daneben gibt es auch Rituale zu besonderen Anlässen, wie etwa die Geburtstagskrone, die jedes Geburtstagskind bei der Feier in der Gruppe bekommt oder das besondere Abschlussfest für die Kinder, die zur Schule kommen.

Rituale geben Orientierung und erzeugen ein Gruppengefühl
Kinder haben ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur. Dieses kann den Kindern ein Sicherheitsgefühl verschaffen. Rituale sind Ordnungs- und Strukturierungshilfen. Und Orientierung und Struktur sind genau da nötig, wo viele verschiedene Eindrücke von Kindern verarbeitet werden müssen. In der Kita wird dieses besonders sichtbar durch die vielen Rituale, die helfen, Übergänge gut zu meistern. So ist es beispielsweise insbesondere für junge Kinder ist es wichtig, dass die Verabschiedung von den Eltern am Morgen immer gleich abläuft. Das Ende des Freispiels wird mit einem Gong und dem Aufräumen verdeutlicht. Um 9 Uhr ist der Morgenkreis und danach gibt es Bildungsangebote. Vor dem Mittagessen sprechen wir einen Tischspruch. Usw. Der Tag in der Kita bekommt durch die Rituale eine Struktur und einen Rhythmus. Da die Kinder noch kein verlässliches Zeitgefühl haben und die Uhr noch nicht lesen können, werden Zeiteinheiten an den Ritualen verdeutlicht „Nach dem Mittagessen wirst du abgeholt.“ oder „Nach dem Morgenkreis gehen wir heute raus.“ Das, was im Tagesablauf ansteht, wird für die Kinder vorhersehbar. Sie fühlen sich nicht der „Laune“ eines Erwachsenen ausgeliefert, der ein Programm spontan bestimmt. Diese Rituale sind Markierungen im Alltag geben den Kindern eine Überschaubarkeit. (Vgl. Nifbe) Zusammenfassend lässt sich daraus schließen, dass Rituale in der Kita die Kinder dabei unterstützen, sich in der Kitawelt zurechtzufinden. Eine verlässliche Struktur, durch Rituale gegliedert hilft den Kindern, sich auf neue Situationen und neue Erfahrungen einlassen zu können. Die gewohnte Struktur schafft Vertrauen und kann Ängste und Unsicherheiten reduzieren.
Zudem erzeugen gemeinsame Rituale in der Gruppe ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Kindern. Jedes Kind der Gruppe kennt die Rituale und führt es als ein Teil der Gesamtgruppe mit aus. Wenn alle Kinder beispielsweise den gleichen Mittagsspruch sagen, hilft es ein Gruppengefühl zu stärken.

Kinder lieben sich wiederholende Handlungsabläufe
Kinder mögen Wiederholungen. Jede pädagogische Fachkraft weiß, dass ein Bilderbuch, was gerade zu Ende vorgelesen wurde mit einem „Nochmal!“ wieder eingefordert wird. Das Gefühl, etwas zu kennen, wie etwa ein bestimmtes Bilderbuch, gibt ein Gefühl von Sicherheit. Das Kind kann sich einen Moment von den vielen neuen Eindrücken, die es täglich hat, im Vertrauten und Bekanntem erholen. Die Wiederholungen sind wie ein vertrauter Hafen, in dem das Kind kurz auftanken kann, bevor es wieder hinausfährt, um die Welt zu entdecken. Die Wiederkehrenden Handlungen sind für einen bestimmten Zeitraum wichtig. Dann können sie weggelassen oder verändert werden. Irgendwann wird das Kind das Bilderbuch nicht mehr einfordern, sondern schafft sich neue Ruheoasen.

Auf entwicklungsfördernde Rituale beschränken
Bei Ritualen gilt nicht das Motto „Viel hilft viel“. Zu viele Rituale engen Kinder ein und können statt einem beruhigenden Effekt, Stress verursachen. Rituale sollten Kindern in ihren Entwicklungsaufgaben unterstützen. Zu diesen zählen beispielsweise die Ablösung von den Eltern, das Einfügen in eine neue Gruppe, Angstbewältigung, Entwicklung eines Realitätsbewusstseins, was in der Schule von Bedeutung ist. (Vgl. Kaufmann-Huber, 1995). Orientierend und haltgebend für die Kinder ist es, wenn relevante Übergänge im Alltag mit einem Ritual begleitet werden. Hilfreich sind hier beispielsweise Rituale in der Situation des Ankommens am Morgen: Das Kind hängt seine Jacke an seinem Haken auf und stellt die Schuhe auf seinen Platz. Es zieht sich die Hausschuhe an. Die Abschiedsrituale zwischen Kind und Elternteil sind oft individuell und können sich im Laufe der Kindergartenzeit verändern. Während ein Kind bei dem Erzieher sein möchte und von dort aus seine Mutter verabschiedet, ist es einem anderen Kind wichtig, seinen Papa an der Tür eigenhändig „rauszuwerfen“. Manche Kinder werden von ihren Eltern auf eine bestimmte Art und Weise zum Abschied geküsst oder sie winken auf eine bestimmte Art am Fenster, wenn die Eltern gehen. Der Morgenkreis in der Kita ist ein Ritual, bei dem die Kinder sich begrüßen und auf den Tag orientiert werden. Gemeinsame Mahlzeiten haben durch einen von den Kindern gedeckten Tisch und den gemeinsamen Tischspruch eine feste Struktur, die Ruhe mit sich bringen kann. Die Übergänge vom Freispiel zu den geleiteten Bildungsangeboten oder zu den Mahlzeiten werden durch einen gerufenen Spruch, wie etwa „Noch 5 Minuten. Dann ist das Freispiel vorbei!“ angekündigt und mit einem Signal, z.B. einem Gong beendet. Diese Rituale müssen durch permanente Wiederholung im Alltag eingeübt werden. Schnell werden die Kinder die ritualisierten Handlungen verinnerlichen. Es gibt auch Rituale, die das ganze Kindergartenjahr strukturieren, wie etwa das Laternelaufen im Herbst, der Adventskalender im Dezember, das Eierbemalen zu Ostern und das Abschiedsfest der zukünftigen Schulkinder kurz vor den Sommerferien.

Flexibel mit Ritualen umgehen
Rituale können „unpassend“ werden. Wenn pädagogische Fachkräfte beobachten, dass ein Ritual die Kinder oder sie selber stresst oder es zwanghaft wird, sollte reflektiert werden, ob es sinnvoll ist, das Ritual aufzugeben oder zu verändern. Von individuellen Ritualen kennt dieses jede Fachkraft, die mit Kindern zu tun hat. So ist beispielsweise über Wochen ein bestimmtes Kuscheltier für ein Kind wichtig, damit das Kind sich morgens von seinen Eltern verabschieden und sich der Gruppe zuwenden kann – und nach einer gewissen Zeit, wird es nicht mehr benötigt. Es wäre stressig, noch an das Mitbringen des Kuscheltieres zu denken und zwanghaft, daran festzuhalten, obwohl es für diese Übergangssituation nicht gebraucht wird. Für eine Kindergruppe können bestimmte Rituale hilfreich sein, die für eine andere Gruppe überflüssig sind. So ist es sinnvoll für eine sehr aktive, extrovertierte Gruppe den Übergang zu einer ruhigen Situation durch ein beruhigendes Ritual, wie etwa eine gemeinsame Atemübung zu gestalten, während eine nicht so aufgeregte Gruppe, dieses nicht bräuchte. Rituale, die als unpassend erlebt und beobachtet werden, müssen nicht komplett verschwinden. Manchmal kann eine Veränderung des Rituals den Kindern wieder Freude daran bringen. Denkbar ist auch, ein Ritual pausieren zu lassen, um wahrnehmen zu können, ob es tatsächlich wichtig für ein Gruppengefühl und eine Orientierung ist. Pädagogische Fachkräfte sollten grundsätzlich nicht dogmatisch mit Ritualen umgehen. Wenn beispielsweise ein Ausflug ansteht oder eine zeitintensive Aktivität, so sollte es möglich sein, dass der Morgenkreis im Ablauf verändert und verkürzt wird – oder auch einmal ganz auf ihn verzichtet werden kann.

Eltern miteinbeziehen  
Eltern können den Fachkräften hilfreiche Tipps geben, welche Rituale das Kind von Zuhause kennt und schätzt. Dieses ist insbesondere bei Familien aus nicht deutschen Kulturen und Religionen von großer Bedeutung. Eltern sollen sich sicher sein können, dass ihre Kinder durch deutsche und christliche Rituale ihre eigene kulturelle Identität nicht am Eingang der Kita abgeben müssen. So sollten Rituale von Kindern mit Migrationsgeschichte in der Gruppe auch sichtbar sein. Für pädagogische Fachkräfte und alle Kinder der Gruppe kann es sehr spannend und bereichernd sein, Rituale anderer Kulturen kennenzulernen und zu verstehen. Gemeinsam mit den Kindern können durch den Austausch auch ganz neue Rituale für die Gruppe entstehen.

Fazit
Rituale sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Kindergartenalltags. Sie geben den Kindern Orientierung und Struktur, die sie brauchen, um sich im oftmals turbulenten Kitaalltag mit all seinen verschiedenen Reizen, die auf die Kinder einströmen, zurechtzufinden. Zudem verschaffen gemeinsame Rituale den Kindern ein positives Gefühl, ein Teil der Gruppe zu sein. Rituale sollten bewusst durchgeführt werden und immer wieder hinterfragt werden, ob sie für die Kinder der Gruppe noch sinnvoll sind. Ggf. sollten Rituale verändert und der Gruppe angepasst werden. Die kulturellen Rituale von Kindern mit Migrationsgeschichte sollten im Kita-Alltag berücksichtigt werden, damit sich jedes Kind in der Kita heimisch und wohl fühlen kann.
Quellen
• Baumer, Caroline (2018): Rituale im Kindergarten. Abrufbar unter: Rituale im Kindergarten | Herder.de, letzter Zugriff am 24.11.2021
• Kaufmann-Huber, Gertrud: Kinder brauchen Rituale. Ein Leitfaden für Eltern und Erziehende. Freiburg im Breisgau, Herder Verlag, 1995
• Rituale, Regeln und der Morgenkreis (betrifftkinder.eu), letzter Zugriff am 29.11.2021• nifbe.de, letzter Zugriff 24.11.2021