Zurück

Kinder müssen sich auch mal auf die Nase legen dürfen

Fachbeitrag

Sofort verfügbar
Herunterladen
Erschienen am

11.10.2013

Dateigröße

59,3 kB

Schlagworte

Eltern

Bildquelle: shutterstock.com / Hurst Photo

„Grenzen kennenzulernen ist eine wichtige Lebenserfahrung, die Eltern ihren Kindern nicht vorenthalten sollten“, sagt Detlef Träbert, Diplom-Pädagoge und Autor aus Niederkassel. Entscheidend ist das richtige Maß zwischen Loslassen und Behüten. Bettina Levecke hat für Grundschulklick mit Detlef Träbert über wichtige Tipps zu diesem Thema gesprochen.

Grundschulklick: Sehr geehrter Herr Träbert, eine These Ihres aktuellen Buches besagt, dass Kinder von alleinerziehenden Eltern besonders gute Chancen haben, selbständig und lebenstüchtig zu werden. Wie meinen Sie das?

Detlef Träbert: In Ein-Eltern-Familien werden Kinder automatisch stärker gefordert als wenn zwei Elternteile mit anpacken. Das Kind muss sich vielleicht morgens schon das Frühstücksbrot selber schmieren oder sich am Nachmittag selbst versorgen, wenn Mama oder Papa arbeiten sind. Kinder alleinerziehender Eltern müssen auch oft mehr Zeit ohne eine Bezugsperson verbringen, die ihnen ständig mit Rat und Tat zur Seite steht. Den Kindern bleibt also häufig nichts anderes übrig, als selbst Lösungen für kleine Alltagsprobleme und Fragen zu finden. Das kann sehr stärkend für die Persönlichkeit sein. Trotzdem ist die Ein-Eltern-Familie natürlich kein Ideal. Hier gibt es ja auch viele Nachteile, die man nicht vergessen sollte.

Grundschulklick: Werden Kinder heute zu stark behütet?

Detlef Träbert: Ich beobachte heute schon eine größere Ängstlichkeit bei vielen Eltern. Man kreist sehr ums Kind, versucht es vor allen Gefahren zu beschützen. Diese Ängstlichkeit hat vielerlei Ursachen: Paare werden immer älter, bis das erste Kind kommt. Oft bleibt es auch bei einem Kind. Man hat häufig klare Vorstellungen, wie es sich entwickeln soll, vielleicht auch ganz konkrete Wünsche, was es werden, leisten oder können muss. Dieses "Wunschkind-Denken" sorgt natürlich dafür, dass die Kinder unter starker Beobachtung stehen und sehr von den Eltern geleitet und begleitet werden. Da sieht man Kinder, die selbst auf dem Spielplatz nicht klettern dürfen, ohne das Mama ständig die Hand schützend drunter hält, oder Kinder, die nie lernen, alleine die Hausaufgaben zu machen, weil Mama oder Papa immer daneben sitzen und Hilfestellung geben. Kinder müssen aber selbstwirksam Erfahrungen machen können.

Grundschulklick: Was meinen Sie genau mit dieser Selbstwirksamkeit?

Detlef Träbert: Ein Kind muss erleben können, das es mit seinem eigenen Handeln etwas bewirkt. Nur durch eigene Erfahrungen kann es Grenzen kennenlernen, die eigenen Kräfte einschätzen und Frustrationstoleranz aufbauen. Selbstwirksamkeit ist der grundlegende Motor für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit. Kinder bringen dieses Streben auch von klein auf mit. Schon Babys greifen nach der Rassel und machen durch die Schüttelbewegung die positive Erfahrung: Hey, ich kann Töne erzeugen, es passiert was! Dabei schüttet der Körper Glückshormone aus, das Baby wird für sein Handeln und seine Sinneserfahrung belohnt. Solche Erfahrungen begleiten uns das ganze Leben. Wie großartig es ist, die ersten selbständigen Schritte zu machen, sieht man am Strahlen der Kinder. Das erste Mal alleine essen, auf einen Stuhl klettern, einen Baum erklimmen – es gibt so viele Beispiele.

Grundschulklick: Eine Rassel schütteln ist ja auch ungefährlich. Beim Klettern auf einen Baum sieht es da schon anders aus. Man muss sein Kind doch auch beschützen?

Detlef Träbert: Natürlich, niemand soll zusehen, wie das Kind metertief fällt. Eltern müssen ständig abwägen: Welche Erfahrungen kann mein Kind alleine machen? Was ist ungefährlich? Wann braucht es aber meine Unterstützung? Man kann kleine Kinder auf einer kleinen Mauer balancieren lassen und auch den Sturz auf den weichen Rasen riskieren. Man kann sie aber nicht an einer stark befahrenen Autostraße laufen lassen. Es ist das Prinzip der Selbstwirksamkeit im angemessenen Rahmen. Eltern setzen die Grenzen dafür. Das ist natürlich nicht immer ganz leicht.

Grundschulklick: Wie viel Selbstwirksamkeit kann man im familiären Alltag umsetzen?

Detlef Träbert: Eine ganze Menge. Schon kleine Kinder können ja vieles selbst probieren und umsetzen, sich zum Beispiel selbst die Gummistiefel anziehen oder den Porzellanteller zum Tisch tragen. Ältere machen ihre Hausaufgaben selbst oder bekommen die Verantwortung für bestimmte Tätigkeiten im Haushalt. Kinder wollen ja im Grunde vieles selbst machen, werden nur leider oft genug von den Eltern ausgebremst. Gerade in hektischen Situationen sagt man ja schnell: „Komm, gib‘ her, ich mach das!“ Einfach, weil man nicht die Geduld hat, 20 Minuten zu warten, bis das Kindergartenkind sich Jacke, Schuhe und Mütze zusammengesammelt und angezogen hat.

Grundschulklick: Oder die schwappende Milchschale sicher zum Tisch gebracht hat … Ist es nicht auch verständlich, dass Eltern solche potenziellen Stressquellen vermeiden?

Detlef Träbert: Es ist sicher einfacher, dem Kind schnell die Jacke anzuziehen und das Getränk oder die Milchschale sicher zum Tisch zu bringen. Man spart sich das Warten und Wischen. Aber man erspart dem Kind auch die Erfahrung, es selbst zu schaffen. Wie toll ist es, sich selbst anziehen zu können? Wie stolz ist ein Kind, wenn es das erste Mal die Milchschale sicher zum Tisch gebracht hat und dafür gelobt wird? Diese Erfahrungen sind so wichtig für die „Tüchtigkeit" kleiner Kinder, dass es sich eigentlich immer lohnt, die nötige Geduld dafür aufzubringen.

Grundschulklick: Was passiert denn, wenn Kinder diese selbstwirksamen Erfahrungen nicht machen dürfen?

Detlef Träbert: Kinder, denen immer alles abgenommen wird, können selbst keine Geduld aufbauen. Oder eben nur schwer. Wenn die Eltern dem Kind immer die Lösungen zu den Hausaufgaben vorflüstern, kann es nicht lernen, selbst den Weg des gedanklichen Widerstandes zu gehen. Das sind dann häufig die Kinder, die auch in der Schule frustriert das Heft in die Ecke schmeißen, weil sie sich nicht zutrauen, die Lösungen selbst zu finden. Sich an der Welt ausprobieren zu dürfen, bringt natürlich immer Frust mit. Aber irgendwann wird aus Frust Erfolg und daran wächst man und lernt: Wenn ich mich anstrenge und mich bemühe, dann kann ich es schaffen. Diese Erfahrung lässt Frustrationstoleranz wachsen und ist die Grundlage des Selbstwertgefühls und Selbstbewusstseins.

Grundschulklick: Wenn kleine Kinder sehr schüchtern sind und sich wenig selbst zutrauen, wie kann man sie fördern?

Detlef Träbert: Das Beste ist immer, sie mit anderen Kindern in Kontakt zu bringen. Im Spiel werden sie ermutigt. Das kann in der Krabbelgruppe, mit Geschwistern, Freunden oder eben auch im Kindergarten sein. Daneben steht zu Hause die sanfte Ermutigung, indem man Erfahrungen anbietet: Man setzt das Kind zum Beispiel auf die Schaukel und stupst es vorsichtig an. Dann wird es gelobt, wie prima es auf der Schaukel sitzen kann. So baut man Schritt für Schritt positive Erlebnisse auf, bis das Kind irgendwann von alleine schaukeln kann. Diese Form der Ermutigung zur Selbstwirksamkeit (ohne Verfrühungstendenzen!) lässt sich in ganz vielen Lebensbereichen umsetzen.

Lieber Herr Träbert, vielen Dank für das Gespräch!

Die Autorin

Bettina Levecke

hat Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in der Nähe von Bremen.

Literaturempfehlung

TRÄBERT, DETLEF: Disziplin, Respekt und gute Noten. Erfolgreiche Schüler brauchen klare Erwachsene, Beltz Verlag: 2012