Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten in der Handelsbilanz

1. Einführung

1.1. Praktische Relevanz

Rückstellungen zur Absicherung von zu erwartenden Aufwendungen aus ungewissen Verbindlichkeiten haben in den Bilanzen von Unternehmen eine hohe Bedeutung. Allein für rechtliche Risiken bildeten fünf große Dax-Konzerne aus der Automobil- und Chemischen Industrie sowie der Finanzbranche im Jahr 2018 Rückstellungen im unteren zweistelligen Milliardenbereich. Dass neben rechtlichen Risiken in der Unternehmenspraxis viele weitere Anlässe zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten vorkommen und § 249 HGB zudem weitere Rückstellungsarten nennt, verstärkt die praktische und ökonomische Relevanz des Themas.

Der inhaltliche Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Rückstellungsart „Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten“ in der Handelsbilanz von Industrieunternehmen.1 Nach einigen allgemeinen Ausführungen zu Rückstellungen, wie begriffliche Klärung, Rückstellungsarten und Rückstellungsbewertung, werden die Merkmale und Anlässe zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten erläutert und anhand praktischer Beispiele veranschaulicht. Insbesondere wird auch auf die Anlässe eingegangen, die zu mehrjährigen (Sammel-)Rückstellungen mit Abzinsungsgebot führen.
1.2. Begriffliche Klärung

Bei Rückstellungen handelt es sich um Schulden des Unternehmens, die sich von Verbindlichkeiten und passiven Rechnungsabgrenzungsposten durch die Ungewissheit in Bezug auf den Eintritt, die Höhe und/oder die Fälligkeit unterscheiden. Sie sind zum Abschlussstichtag in der Bilanz zu passivieren, um Aufwendungen für Verpflichtungen zu berücksichtigen, die vor dem Abschlussstichtag entstanden sind, aber erst im folgenden Jahr oder in einem der folgenden Jahre zu Ausgaben führen. Im Jahr ihrer Bildung mindern Rückstellungsaufwendungen den Gewinn des Unternehmens. Die Bildung von Rückstellungen ist somit Ausdruck des Vorsichtsprinzips (§ 252 [1] Nr. 4 HGB) und gewährleistet einen periodengerechten Ergebnisausweis, weil vor dem Abschlussstichtag verursachte Risiken und Verluste als gewinnmindernde Passivposten in die Bilanz aufgenommen werden.

Die handelsrechtlichen Grundlagen für die Bildung von Rückstellungen enthalten § 249 HGB „Rückstellungen“ sowie § 246 HGB „Vollständigkeit, Verrechnungsverbot“ als Generalnorm: „Der Jahresabschluss hat sämtliche Vermögensgegenstände, Schulden, Rechnungsabgrenzungsposten sowie Aufwendungen und Erträge zu enthalten, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist […].“2
2. Rückstellungen nach Handelsrecht

2.1. Rückstellungsarten

§ 249 [1] HGB listet die Rückstellungsarten auf, für die eine Passivierungspflicht besteht:
  • Ungewisse Verbindlichkeiten,
  • drohende Verluste aus schwebenden Geschäften,
  • im Geschäftsjahr unterlassene Instandhaltungsaufwendungen, die im folgenden Geschäftsjahr innerhalb von drei Monaten nachgeholt werden,
  • im Geschäftsjahr unterlassene Abraumbeseitigung, die im folgenden Geschäftsjahr nachgeholt wird, und
  • Gewährleistungen, die ohne rechtliche Verpflichtungen erbracht werden.

Die Aufzählung der Rückstellungsarten ist abschließend, weil nach § 249 [2] Satz 1 HGB „für andere als die in Absatz 1 bezeichneten Zwecke […] Rückstellungen nicht gebildet werden“ dürfen (Passivierungsverbot).
2.2. Ansatz und Ausweis der Rückstellungen in der Handelsbilanz

Eine Rückstellung wird in der Regel dann in der Bilanz angesetzt, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit des finanziellen Risikos mehr als 50 % beträgt. Die Bilanzgliederung für mittelgroße und große Kapitalgesellschaften nach § 266 [3] HGB, die auch Richtschnur für andere Rechtsformen von Unternehmen ist, sieht für Rückstellungen auf der Passivseite der Bilanz folgenden Ausweis vor:
Diese Gliederung stimmt nicht mit den Rückstellungsarten in § 249 HGB überein. Damit aus der Buchführung heraus die Zuordnung zu den Bilanzposten nach § 266 HGB möglich ist, werden in der Buchführungspraxis die passiven Bestandskonten für Rückstellungsanlässe dem passenden Bilanzposten zugewiesen. Die Gegenbuchungen zu den Rückstellungskonten erfolgen auf den sachlich zutreffenden Aufwandskonten.3
2.3. Bewertung von Rückstellungen nach Handelsrecht

Nach § 253 [1] Satz 2 HGB sind „[…] Rückstellungen in Höhe des nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrages anzusetzen.“ Der Erfüllungsbetrag ist der Betrag, der bei Inanspruchnahme der Rückstellung aufgewendet werden muss, um die ungewisse Verpflichtung zu erfüllen. Damit sind bei mehrjährig laufenden Rückstellungen in den Erfüllungsbetrag auch Kostensteigerungen einzurechnen.

Die Ermittlung des Erfüllungsbetrags ist auf der Basis „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ vorzunehmen. Da der Erfüllungsbetrag in der Regel nicht exakt berechnet werden kann, greift die Praxis auf Schätzungen zurück, wobei diese geschätzten Beträge ebenfalls eine Eintrittswahrscheinlichkeit von mehr als 50 % haben sollen.

Für die Bewertung langfristiger Rückstellungen ergänzt § 253 [2] HGB: „Rückstellungen mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr sind abzuzinsen mit dem ihrer Restlaufzeit entsprechenden durchschnittlichen Marktzinssatz, der sich im Falle von Rückstellungen für Altersversorgungsverpflichtungen aus den vergangenen zehn Geschäftsjahren und im Falle sonstiger Rückstellungen aus den vergangenen sieben Geschäftsjahren ergibt. […]“

Durch diese Abzinsungsvorschrift verlangt das HGB die Bewertung von Rückstellungen mit Restlaufzeiten von mehr als einem Jahr zum Barwert. Die Höhe der Abzinsungssätze legt die Deutsche Bundesbank monatlich in Zeitreihen fest. So beträgt z. B. der durchschnittliche Abzinsungszinssatz einer siebenjährigen Zeitreihe für eine Rückstellung mit einer Restlaufzeit von fünf Jahren 0,99 % (Stand Juli 2023).

Nachdem eine Rückstellung erstmals zum Abschlussstichtag eines Geschäftsjahrs gebildet worden ist, muss sie – sofern sie nicht im Folgejahr in Anspruch genommen wird – zu jedem folgenden Abschlussstichtag hinsichtlich ihrer Höhe überprüft werden. Bei mehrjährig laufenden Rückstellungen ist nach den rechtlichen Vorgaben eine jährliche Anpassung auf den jeweils aktuellen Barwert erforderlich.
3. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten

3.1. Anlässe und Ausweis

Der bedeutendste Anlass Rückstellungen zu bilden, verbirgt sich hinter der Bezeichnung „ungewisse Verbindlichkeiten“. Bei dieser Rückstellungsart handelt es sich um Verpflichtungen gegenüber Dritten oder um öffentlich-rechtliche Verpflichtungen, mit deren Eintritt ernsthaft gerechnet wird und deren wirtschaftliche Verursachung im laufenden Geschäftsjahr liegt.
Abb. 1: Rückstellungsposten in der Bilanz
Die Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten werden den Rückstellungsposten in der Bilanz gemäß Abb. 1 zugeordnet.
3.2. Praktische Anwendungsfälle

Im Folgenden werden anhand eines Beispielunternehmens, der Schmolmann KG, drei Beispiele für Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten dargestellt. Dabei handelt es sich um eine Rückstellung für eine Gewerbesteuernachzahlung (Beispiel 1), für eine ausstehende Eingangsrechnung (Beispiel 2) sowie für eine Rückbauverpflichtung, die als mehrjährige (Sammel-)Rückstellung gebildet wird (Beispiel 3).
1 Eine ausführliche Darstellung des Themas Rückstellungen, die auch die übrigen Rückstellungsarten und die ertragsteuerliche Sichtweise enthält, finden Sie unter: www.schmolke-deitermann.de/Beiträge.
2 Die steuerrechtlichen Grundlagen zur Bildung von Rückstellungen enthalten die §§ 5 und 6 EStG.
3 Für Beispiele siehe Abschnitt 3.1.

Ihre Autorin

Dr. Susanne Stobbe ist Professorin für allgemeine BWL und betriebliche Steuerlehre an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Sie ist zudem seit 2012 als Autorin für die Schmolke/Deitermann- und die Deitermann/Rückwart-Werkreihe tätig.

Ihr Autor

Wolf-Dieter Rückwart ist Mit-Autor der Rechnungswesenbücher von Schmolke/Deitermann und Deitermann/Rückwart sowie der Speziellen Wirtschaftslehre für Industriekaufleute. Die Autorentätigkeit übt er seit 1976 aus. Seine Maxime: Schülerinnen und Schülern sowie Auszubildenden die „Werkzeuge“ an die Hand zu geben, die sie zur erfolgreichen Bewältigung ihrer schulischen und beruflichen Lebenssituationen benötigen. Nach seinem Studium in Köln (Diplom-Handelslehrer) war er 26 Jahre Lehrer am Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung in Leverkusen, bevor er als Stellvertretender Leiter ans Studienseminar Köln II wechselte. Zusätzlich zu seiner Lehrertätigkeit übte er seit 1973 die Fachleitung für Wirtschaftswissenschaften an den Studienseminaren in Düsseldorf und Köln aus.