1885-1907: Länderkunde

In der Kritik
Ab den 1880er-Jahren hatte es der "Seydlitz" mit "Kritikern" zu tun, "die darüber zu erstaunen pflegen, daß es noch ein Buch gibt, das Flüße, Gebirge und Staatenkunde als getrennte Kategorien behandelt." Im Kampf um eine bessere Stellung der Geographie sollte das Fach ein höheres intellektuelles Niveau erhalten und mit seiner Rivalin, der Geschichte, gleichziehen. Die Seydlitz-Kritiker betonten die naturwissenschaftlich orientierte physische Geographie und das Kausalitätsprinzip von Ursache und Wirkung. Geschichte galt ihnen nur als eine Hilfsdisziplin. Wie eh und je blieb es aber bei dem topographischen Lernziel. Die Länderkunde hielt Einzug in die Geographie. In ihr sollten physische und politische Merkmale einer Landschaft, eine "Landes", zu einer schlüssigen Gesamtdarstellung ihres Beziehungsgeflechts verschmelzen. Das hieß in erster Linie, weg von der Stoff zergliedernden Schema-Geographie, ohne das topische Element zu übergehen und Akzentuierung der physischen Grundlagen.
Der neuen Richtung konnte oder wollte ein Großteil der Lehrer nicht folgen. Fachlehrer, die aus Neigung ein Studium der Geographie absolviert hatten, bildeten noch eine Minderheit. In der Regel erteilten wie bisher Historiker den Unterricht. Die Neubearbeitung des "Seydlitz" hatte diese Lehrerklientel im Auge, als sie sich der Länderkunde in moderater Form anpasste. In Dr. Ernst Oehlmann (1849-1918), Leiter des Realgymnasiums in Linden bei Hannover, fand der Hirt Verlag den geeigneten neuen Bearbeiter. Nach dem Studium seines Lieblingsfaches Geschichte hatte er sich mehr und mehr seinem Zweitfach, der Geographie, zugewandt. Oehlmann strich größere Geschichtsabschnitte, und historische Denkwürdigkeiten hatten von geographischer Relevanz zu sein wie auch die "Merkwürdigkeiten" der Städte. Details aus Kunst und Architektur verschwanden. An ihre Stelle setzte Oehlmann wirtschafts- und lagebezogene Informationen, besonders über Handels- und Verkehrswege. An Cordoba etwa interessierte nicht mehr die Kathedrale "mit 100 Kapellen und 1000 dünnen Marmorsäulen"(1881, Hervorhebungen im Original), sondern die Schiffbarkeit des Guadalquivir.
Die Stoffgliederung des nun mit "Länderkunde" überschriebenen zweiten Teils des "Seydlitz" folgte ganz strikt dem Landschaftsprinzip. Die Übersichtskapitel baute er wesentlich aus und strukturierte sie stärker nach kausalen Gesichtspunkten. Das vertraute Schema wurde dadurch flexibler und dank variationsreicherer Sprache eleganter gestaltet. Wie ehedem folgten die Staaten auf die Länderbeschreibungen.

Weniger Grausamkeiten

Aber nicht nur den Lehrern, sondern auch den Schülern machte es Oehlmann leichter: Layout und Schrift wurden lern- und lesefreundlicher, und die Zahlen strich er auf rund die Hälfte zusammen. Der Rest war stark abgerundet. Die geplante Kennzeichnung des Merkstoffs scheiterte, da sich die Lehrerschaft nicht auf einen Namens- und Begriffskanon einigen konnte. Gewinne verbuchte wieder das Illustrationsmaterial, das nicht mehr nur Anhängsel war und zum Teil farbig wurde. Die auf dem ersten Geographentag in Berlin 1881 kritisierten Skizzen mit dem "Seydlitz-Strich" wurden reduziert und durch zeitgemäße farbige Karten ersetzt.
Die Ausgabe C entwickelte Oehlmann zum über 900 Seiten starken "Großen Seydlitz", dem Standardhandbuch für Seminare, Universitäten und Büros, das spätestens um die Jahrhundertwende keine Rolle mehr als Schulbuch spielte. Die von ihm nach dem preußischen Lehrplan von 1892 neu konzipierte Ausgabe D in 6 Heften, die den Stoff erstmals klassenweise darbot, sollte die Bandausgaben bis 1917 verdrängt haben. Der "Seydlitz" war damals auch das erste Geographiebuch, das die deutschen "Schutzgebiete" ausführlich behandelte.
Ernst Oehlmann (1849-1918)

Der Farbdruck hält Einzug:
Tropische Sumpfküste

Ein goldener Einband zur Feier
des Millionenabsatzes 1895

An die Stelle des Seydlitz-Strichs
tritt die Gebirgsschraffe.