Topographie ohne Maß
Der Leitfaden orientierte sich an einem Geographieunterricht, der sich bei späteren Geographiereformern vernichtende Urteile einhandelte: Von einem "dürren Fakten- und Namenskelett", "Raritätenkabinett", "Detailkrämerei" war die Rede. Geographie war zu v. Seydlitz Zeiten weitgehend ein Gedächtnisfach mit enzyklopädischem Anspruch. Als realistisches, lediglich "nützliche" Kenntnisse vermittelndes Fach wurde ihm, gegenüber den alten Sprachen und der Mathematik, ein niedrigerer Bildungswert beigemessen. Auf den höheren Schulen war seine Existenz durch die enge Verbindung mit dem Fach Geschichte gesichert, sollte die Geographie ihr doch als eine Art Vorkurs die historischen Schauplätze mitliefern. In der Praxis wurde Topographie und nochmals Topographie eingeübt. Die Lage der zahlreichen natürlichen wie der von Menschenhand geschaffenen Objekte und ihr Lageverhältnisse zueinander galten als die Basis jeder weiteren Stoffvermittlung. In einer Instruktion aus den 1830er-Jahren heißt es etwa: "Der Schüler muß mit den allgemeinen Größen- und Formverhältnissen der Erdoberfläche bekannt, auf den Karten von Europa und Deutschland völlig eingewohnt sein, dass er in ihre unausgeführten Flußnetze eine mäßige Anzahl von topo-, oro- und hydrographischen Benennungen richtig aus dem Gedächtnis eintragen kann. Eine mäßige Anzahl von Dimensionen und Zahlen auswendig wissen und von jedem Weltteil, von jedem europäischen Reiche von der mäßigen Anzahl von Städten die wesentliche Merkwürdigkeit." Die "Mäßigkeit" war dabei eine relative Forderung. Ein berühmter Geographiedidaktiker jener Zeit konnte stolz einen Schüler präsentieren, der in wenigen Minuten 600 Namen in der Reihenfolge ihrer Lage auf einer Karte aus dem Gedächtnis abrufen konnte. Beliebte Aufgaben lauteten: Umreise im Geiste den ganzen Umfang des Landes XY und gib die See- und Grenzprovinzen oder Länder an, wie sie in der Wirklichkeit nacheinander ringsum folgen. Oder: Folge im Geiste dem Hauptfluss XY von der Quelle bis zur Mündung und gib der Reihe nach die Nebenflüsse an, die er aufnimmt.

Maßvoller "Seydlitz"
Und wie verfuhr nun Ernst von Seydlitz? Die zentrale Frage in der Vorrede seines Leitfadens "Soll der heranwachsende Knabe, Jüngling, Mädchen blos mit trockener geographischer Speise genährt, mit einer unendlichen Reihe von Namen und Zahlen überladen, und so sein wissbegieriger Eifer gar getödtet werden?" beantwortete er mit einem klaren Nein. Er gehörte zu der, wohl kleinen, Geographenfraktion, die das Maßhalten ernst nahm. Zum einen suchte er die Stofffülle auf "das wirklich Interessante" zu reduzieren, was allerdings seine Grenzen in dem um die 200 Staaten umfassenden Pensum und in detailbesessenen Lehrern finden musste. Zum anderen setzte er sehr geschickt Layout und Typographie ein: Es sprangen nur die Begriffe und Namen ins Auge, die er für erläuterungs- und behaltenswert hielt. Etliche Informationen verwies er gar ins Kleingedruckte. Seine Zahlen waren abgerundet und sollten - meist in Klammern gesetzt - nicht zusätzlich das Gedächtnis belasten. Hilfreich waren auch die Staatentabellen, die noch einmal das statistische Zahlenmaterial für den obligatorischen Größenvergleich zusammenfassten ohne mühsames Zusammensuchen oder gar Abfragen. "Dem Schüler zuzumuthen, daß er sie alle lerne, wäre grausam." Zudem setzte v. Seydlitz recht optimistisch auf den engagierten Lehrer: "Man entwerfe dem Schüler ein recht lebendiges Bild jedes Landes, jedes Volkes und sein geographischer Eifer wird nie ermüden." In Ernst von Seydlitz jedenfalls dürften die Gnadenfreier Schüler und Schülerinnen solch einen Lehrer gefunden haben. Nicht nur die von ihm eingeführten Schulwanderungen sprechen dafür. Etwas von der Begeisterung, die v. Seydlitz für sein Fach empfunden hat, blitzt auch hie und da in seinem Leitfaden auf, wenn er "herrlichste" Produkte, "erhabene" Gipfel oder das "vielleicht schönste Land der Erde" - gemeint ist Ostindien - abhandelt.
Topographie mittels Typographie:
die Nebenflüsse "rechts" und "links" der Oder